Im Dorf der Frauen

Irgendwo in Kolumbien: James Cañon erzählt vom Tag, an dem die Männer verschwanden

Eines Morgens sieht sich der 28-jährige Amerikaner Gordon Smith, der über den endlosen Bürgerkrieg in Kolumbien berichtet, umzingelt von nackten Frauen. Sie halten Steine und Knüppel in ihren Händen. Unten im Tal hatte man Gordon Smith erzählt, in den Bergen gäbe es eine Siedlung Menschenfleisch verschlingender Amazonen. Selbstverständlich hatte er das für ein Märchen gehalten, für eine überhitzte Fantasie in einem Land, in dem seit sechzig Jahren nackte Gewalt zum Alltag gehört. Doch dann sind sie doch ziemlich real.

Gordon Smith taucht zwar erst am Ende von James Cañons erstem Roman, „Der Tag, an dem die Männer verschwanden“, auf, ist aber durchweg präsent in einer 400-seitigen Handlung, die das Schicksal des fiktiven kolumbianischen Dorfes Mariquita erzählt. Formal betrachtet ist dieses Buch eine Chronik: Sie beginnt mit der gewaltsamen Verschleppung der männlichen Bewohner durch eine Guerillatruppe. Sie zeigt dann den dramatischen Versuch der Frauen, eine funktionierende Gemeinde unter schwierigsten Bedingungen zu gestalten. Und sie mündet in einem matriarchalischen Happy End unter der Sonne einer Philosophie, die eine neue Harmonie zwischen Mensch und Natur besiegelt. Gordon Smith ist – sieht man von ein paar unbedeutenden Ausnahmen ab – jedenfalls der erste Mann, den die Frauen nach 15 Jahren zu Gesicht bekommen.

In zweierlei Hinsicht ist der Gringo, auch wenn ihm verhältnismäßig wenig Platz eingeräumt wird, die Schlüsselfigur in diesem bemerkenswerten Roman. Zum einen ermöglicht Gordon Smith es seinem Autor James Cañon, der 1969 in Kolumbien geboren wurde, eine distanzierte Perspektive auf die Gräuel in seinem Heimatland einzunehmen. Zum anderen schaltet Cañon, der seit Jahren in den USA lebt und auf Englisch schreibt, zwischen jedem Kapitel sehr eindringliche Reportagen über Kindersoldaten und Kriegskrüppel ein – die alle, wie man am Ende des geschickt komponierten Buches erfährt, aus der Feder von Gordon Smith stammen.

So erstaunt einen dieser Roman vor allem vom letzten Drittel an, gerade weil sein schlichter Erzählton zunächst befremdet; und auch die Dialoge mit ihrem kindlichen Einschlag wirken ein wenig hölzern. Jedoch verrät der englische Titel, warum der Stil zum ländlichen Geschehen passt: „Tales from the Town of Widows & Chronicles from the Land of Men“. Der geschickte Kniff, den Cañon anwendet, ist nämlich der, dass er seinen Stoff wie ein Märchen behandelt. So erinnert der Roman zwar an einen Film in Weichtonfarben, in denen dörfliche Szenen wie Figuren harm- wie arglos wirken. Aber das ist eine von Cañon beabsichtigte Täuschung, mit der er eine nahezu banale Oberfläche vortäuscht, die er immer wieder durch Beschreibungen schockierender Gewalt aufbricht.

Eine gute Episode, die das verdeutlicht, ist die, wo es um die Frage des Nachwuchses geht. Um das von der Außenwelt abgeschnittene Dorf vor dem Aussterben zu bewahren, beauftragt die Bürgermeisterin Rosalba in Übereinstimmung mit der Mehrheit den einzig verbliebenen zeugungsfähigen Mann, den Padre, sein Keuschheitsgelübde zu brechen. Was zunächst wie eine folkloristisch gefärbte Posse daherkommt, entpuppt sich wenig später als Tragödie. Der Padre vergewaltigt die junge Virgelina und vergiftet daraufhin, verwirrt und überfordert durch seine neue Rolle, in einem Anfall diffuser Sühnung die vier letzten Jungen des Dorfs – was zu seiner Vertreibung aus Mariquita führt.

Es ist schon erstaunlich, wie Cañons antipsychologischer Erzählton die Persönlichkeitsstrukturen seiner bäuerlichen Gestalten ausleuchtet. Differenziert kommt jede rüber. Drei Beispiele aus dem zahlreichen Personal seien genannt: Rosalba fasst ihr Amt als Bürgermeisterin zunächst autokratisch auf, Ubaldina läuft als dorftrotteliger Büttel herum, Cleotilde ist lange Zeit einfach nur eine hoffnungslos kurzsichtige wie dünnhäutige Lehrerin. Im letzten Drittel des Romans teilt Rosalba ihre Macht schließlich mit anderen, Ubaldina wird zu einer selbstbewussten Frau, und Cleotilde stellt ihr Wissen in den Dienst der Gemeinde. Cañon begreift die Entwicklung seiner Figuren als ein allmähliches Hinauswachsen aus dem ehemals mickrigen Statistendasein unter männlichem Diktat. Zu Herzen gehend ist dieses ganze Treiben unter der Lupe des Mikrokosmos dann auf jeden Fall.

Das hat auch mit dem homosexuellen Subtext zu tun. Schon der Name Mariquita, der auf das Dorf der Dörfer in der lateinamerikanischen Literatur verweist (Macondo von García Márquez), aber auch eine deutliche Ableitung von dem spanischen Diskriminierungsbegriff für Homosexuelle (marico) ist, offenbart die Utopie Cañons. Nachdem die heterosexuellen, kapitalistisch geeichten Kerle das Land verwüstet haben, errichten die Frauen unter der friedlichen Standarte der Gleichgeschlechtlichkeit einen sozialistischen Ministaat, wo Milch und Honig fließen – und man sich aller Kleider entledigt. Manchmal ist das zwar etwas süß zu lesen, aber es ergeht einem wie Gordon Smith, der, wieder zurück in den USA, die Geschichte von Mariquita aufzeichnet. Er war nicht nur von der Nacktheit der Frauen fasziniert. MANUEL KARASEK

James Cañon: „Der Tag, an dem die Männer verschwanden“. Aus dem Amerikanischen von Sky Nonhoff. Ullstein, Berlin 2008. 400 Seiten, 19,90 €