: Russland?
Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Forsa sehen Deutsche Russland als „weites Land“ voll „sozialer Ungleichheit“ und mit überaus starkem Machtbewusstsein. Michail Gorbatschow gefallen das Russlandbild der Deutschen und seine gängigen Stereotype nicht: In Russland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt und eine arglistige Energiepolitik durchgesetzt. Zwar müssten russische Medien kritisch beurteilt werden, es gebe allerdings zahlreiche freie russische Zeitungen. Der ehemalige Präsident der Sowjetunion und Friedensnobelpreisträger meint, der Diskussionsprozess sei in vollem Gange und „Russland bewegt sich vorwärts“. Teil des gängigen Russland-Klischees: das Russische Roulette. Es wurde 1937 im amerikanischen Magazin Collier’s erstmals erwähnt. In Georges Surdez’ Kurzgeschichte „Russian Roulette“ suchen Soldaten der russischen Armee im Ersten Weltkrieg den Nervenkitzel mit dem Revolver. Es gibt jedoch keine Belege dafür, dass sich Armeeangehörige des Zarenreiches tatsächlich die Zeit damit vertrieben haben. NMG
Das riesige Land ist schwer zu verstehen – selbst für Russen. Deswegen greifen die Menschen zwischen Baltikum und Beringstraße zwecks Selbstverortung auf Fremdbilder zurück. Mitunter auch auf Feindbilder
AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH
Russland schmollt und igelt sich ein. Fühlt sich unverstanden und schlecht behandelt. All das lässt es laut, grob und aggressiv werden. Nachbarn tun besser daran, sich vor einem schmollenden Russland in Acht zu nehmen. Wer sich dennoch widerborstig gibt wie das kaukasische Georgien, wird ohne viel Federlesens abgestraft. Zeiten des Schmollens folgen auf Phasen imperialen Schwächelns, wann immer der Staat meint, endlich wieder zu Kräften gekommen zu sein, die Anerkennung von außen sich aber nicht sofort einstellt. Dann schnappt Russland regelmäßig ein und lässt es alle wissen.
Volk und Führung, die in Russland gewöhnlich ein Eigenleben führen, sind sich dann plötzlich so nah wie nie. Eine gebetsmühlenartige Beschwörung, von der Außenwelt gedemütigt und gekränkt zu werden, versetzt den Volkskörper in ein Urgefühl der Wonne. Er sehnt sich zurück in den Uterus des Mütterchen Russlands, oder, um es mit Gottfried Benn zu sagen, in den Urschlamm einer thalassalen Regression. Russland begreift sich in seinem literarischen und religiösen Selbstverständnis als Verkörperung der Weiblichkeit. Deswegen bleibt es passiv und ewig auf der Suche nach einem (europäischen) Samenspender.
Russlands atomisierte Gesellschaft genießt den pränatalen Zustand des In-eins-Seins. Alle fühlen, denken, lieben oder hassen das Gleiche, während die Identität von Volk und Führung zuweilen Ähnlichkeiten mit fundamentalistischen Systemen aufscheinen lässt. Noch suhlt sich Russland in der schummrigen, feuchtwarmen Behaglichkeit der Innenwelten. Vergessen scheint die ewig quälende Frage, „Wer sind wir, und was wollen wir?“ Seit drei Jahrhunderten oszilliert das Land unversöhnlich und kompromisslos zwischen den Polen hin und her, ob es nun zu Europa gehöre oder nicht doch größere Ähnlichkeiten mit asiatischen Zivilisationen aufweise. Freilich ohne jemals eine klare Antwort zu finden. In der Phase des Schmollens wird nicht nachgedacht. Dafür wächst die Überzeugung, die russische sei eine eigene und selbstständige Zivilisation.
Eine Gewissheit, die nicht von Dauer sein wird. Bald, auf jeden Fall mit der nächsten Krise, die bereits hinter der Ecke lauert, begibt sich der eurasische Riese wieder auf die Suche nach seiner Bestimmung. Ob er das nächste Mal fündig wird? Es ist zweifelhaft. Der Grund dafür ist einfach. Russland hat keinen Begriff von sich und weiß daher nicht, wonach es sucht. So wie es sich darstellt, entwirft und immer wieder von Neuem erfindet, gibt es das Land tatsächlich nicht. Das stabile, modernisierte, zukunftsorientierte Russland Wladimir Putins, an das der Westen lange zu glauben geneigt war, ist eine Fata Morgana. Das Land steht auf tönernen Füßen, sein langsamer Fäulnisprozess dürfte für die Welt gefährlich werden.
Russland braucht Hilfe, weigert sich indes, auch gut gemeinten Rat anzunehmen. „Ihr versteht uns sowieso nicht“, sagt der Kreml heute wieder, „deshalb redet uns auch nicht hinein.“ Die Russen sind überzeugt, ihr Land lasse sich mit dem Verstand nicht begreifen, schon gar nicht von Fremden. „Was sich nicht begreifen lässt, gibt es nicht“, hielte Hegel dem entgegen. Und dafür, dass es eigentlich nicht existent ist, ist Russland ziemlich lebendig. Ein Nachbar, der alle auf Trab hält. Es gibt ihn, aber die Unterschiede sind weit größer, als sich Europa nach dem Ende des Kalten Krieges eingestehen wollte. Die „Verähnlichung“ (Hegel) mit Europa erschwert es, diese Differenzen gleichwohl als wesensbestimmend und kaum überbrückbar zu erkennen.
Dies bestärkt die Europäer in der Annahme, Russland gehöre zu Europa, und umgekehrt die Russen darin, trotz aller Differenz Europäer zu sein. Schuld an der optischen Täuschung ist eine geniale Nachahmungs- und Imitationskultur. Noch in der rigorosen Ablehnung alles Westlichen greift Russland auf Versatzstücke europäischer Theorien und Geistesströmungen zurück, sodass der Gegner auch in der Negation als Blaupause präsent bleibt. Erinnert sei nur an die Rolle der deutschen Romantik für die Identitätsbildung und Standortbestimmung der russischen Intelligenz im 19. Jahrhundert. Doch reicht dieses Prinzip bis zur Staatsgründung im 9. Jahrhundert zurück und ist bei der Übernahme des Christentums als Staatsreligion von Byzanz anzutreffen. Auch die Sowjetisierung im Rückgriff auf den Marxismus und die Demokratisierung Anfang der 1990er-Jahre funktionierten nach diesem Muster.
Die Nachahmungskultur ist so beschaffen, dass sie den Anschein, der von außen auf sie projiziert wird, als ihr eigentliches Sein begreift. Fremdverständnis wird somit zur wichtigsten Quelle des russischen Selbstverständnisses. Der Historiker und Philosoph Konstantin Kawelin brachte es schon im 19. Jahrhundert auf den Punkt. Er beschrieb die russische Kulturleistung als Ergebnis eines stetigen Einsaugens und Einspeisens fremder Ideen. Heraus kam etwas Einmaliges: Russland pflegte sich grundsätzlich mit fremden Augen zu betrachten. Gleichwohl setzte dies voraus, dass der Russe sich in das Fremde hineinversetzt, um durch die andere Optik die eigene Position zu verorten. So etwas macht geschmeidig.
Die Besonderheit der Kultur beruht auf der Fähigkeit, das Fremde mit dem Eigenen zu vermengen und horizontal auf gleicher Stufe zu integrieren, gleichzeitig wird das Eigene durch Anreicherung mit dem Fremdartigen in neue Formen gegossen und dadurch kräftig aufgewertet.
Der Russlandexperte Felix Philipp Ingold nennt diese Originalität „prekär“, weil die Rezeption fremder Kulturwerte und Zivilisationsleistungen stets im Kontext eines mehr oder minder rigiden Freund-Feind-Schemas stattgefunden habe. Feinde hatte Russland in seiner Geschichte genug, Freunde nur wenige. Bemerkenswert ist daher, dass Russland sich den Feind zum Vorbild nimmt und dessen Überlegenheit ungeniert anerkennt. Gänzlich paradox wird es dann, wenn der Feind, dem eine schwere Niederlage beigebracht wurde, nach dem Waffengang vom Sieger leidenschaftlich nachgeahmt wird. So geschehen nach dem Triumph über Napoleon, als russische Truppen bis Paris marschierten.
Unser Autor Klaus-Helge Donath, seit 1990 taz-Korrespondent in Moskau, veröffentlichte Anfang des Jahres sein Buch „Das Kreml-Syndikat“. Darin erklärt er, ausgehend von dem Verhältnis zwischen dem ehemaligen Staatschef Wladimir Putin und Russland, den typisch russischen Umgang mit Wahrheit und Recht. Er ergründet das Scheitern der Demokratie seiner Wahlheimat: Russland sei eine andere Zivilisation – ein Land, in dem die Gesellschaft eine Veranstaltung des Staates sei. Und zwar mit dem Ziel, die Herrschaftsmechanismen wieder in die gewohnten Bahnen zu lenken. Im Jahr 2001 wurde Donath als erster ausländischer Korrespondent in Russland aufgrund eines Artikels über den Putin-Personenkult vor einem Moskauer Gericht verklagt. „Das Kreml-Syndikat“, Rotbuch-Verlag, Berlin, 224 Seiten, 19,90 Euro
Was wir für das Original halten, lässt Russland jedoch zutiefst unbefriedigt. Uns erleichtert diese Annäherung zwar die Kommunikation, doch die Ähnlichkeit trügt, und die Russen sind ewig unzufrieden. Die Konstruktion der Widerspiegelung verhindert jedoch, dass Russland jemals zur Ruhe kommen kann. Hin und her geworfen fühlt es sich, möchte unbedingt dazugehören und doch wiederum nicht.
Seit der Eiserne Vorhang fiel, bereisen Millionen Russen jedes Jahr die Welt. Sie genießen es und freuen sich über die bequemere Art der Erholung. Im Westen ist der Tourist nicht nur ein umworbener Kunde, sondern meist auch noch Mensch. Der russische Tourist erkennt das Gefälle zur Heimat, dennoch zieht es ihn wehmütig in sie zurück. Dort schwärmt er anfangs noch von den Vorzügen, atmet indes langsam auf und wird einen Teufel tun und Annehmlichkeiten der Dienstleistungsgesellschaft zu Hause zum Durchbruch verhelfen. Stattdessen verblasst die Erinnerung, ehemalige Begeisterung weicht einer patriotisch aufgeladenen Kritik an den Vorzügen. Auch hier funktioniert Russland anders. Die Erfahrung draußen wird verarbeitet, um Rückständigkeit daheim zu konservieren und zu rechtfertigen.
Russische Soziologen beschreiben dieses Rezeptionsmodell als das Nebeneinander von nachholenden und höher entwickelten Zivilisationen. Die archaisch geprägte nachholende Zivilisation ist auf den Westen angewiesen, imitiert und kopiert die instrumentelle Seite der produktiveren Hochkultur. Die nachhinkende Zivilisation hat sich unterdessen an die Vorzüge der Hochkultur gewöhnt, kann ohne sie nicht leben, ist aber auch nicht in der Lage, aus eigenen Kräften Gleichwertiges zu schaffen. Diese Ambivalenz beherrscht die russische Selbstwahrnehmung, verleiht ihr zuweilen schizophrene Züge. Russland imitiert, aber entstellt die Kopie gleichzeitig. So soll den Elementen der Überlegenheit einer anderen Gesellschaft die für den Fortbestand der eigenen Gesellschaft bedrohliche Kraft genommen und entzaubert werden.
Der Rückgriff auf Fremdurteile manifestierte sich auch im Georgienkonflikt. Der Krieg hatte für die Gesellschaft eine kathartische Wirkung. Nicht Georgien, die USA waren der Gegner, die in die alte Funktion des Systemkonkurrenten gepresst wurden. Den USA fällt in der Selbstwahrnehmung die Rolle des „bedeutenden anderen“ zu. Daran reibt und misst sich Moskau, wobei die Rivalität nicht so sehr auf dem tatsächlichen Wirken in der internationalen Arena als vielmehr auf dessen Widerspiegelung im russischen Massenbewusstsein beruht. Für dieses Bewusstsein ist es nicht wichtig, dieses andere auch zu besiegen. Man gibt sich in einer symbolisch wahrgenommenen Gegnerschaft mit der Feststellung zufrieden: Wir sind nicht schlechter als sie. Denn das Verhältnis zu den USA hat mit deren Handeln nichts zu tun, in ihm reflektieren sich lediglich die Beziehungen der Russen zu sich selbst und die Autorität, die sie in ihren Augen verdienen. Kurzum: Es ist die Maßeinheit russischer Selbstachtung. Russland muss das Andere/Fremde negieren, um sich seiner selbst zu vergewissern.