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Archiv-Artikel

ein amerikaner in berlin ARNO HOLSCHUH über die Fernsehkrankheit

Sinnvolle Freizeit im Arbeitslosen- und Lebenskünstlerbezirk

Im Radio kam gestern eine Nachricht, die laut begleitendem Kommentar erschütternd sein sollte: Die Arbeitslosenzahl in Berlin ist wieder gestiegen, diesmal auf 18,5 Prozent. Obwohl ich erst seit wenigen Monaten in Berlin bin, ist diese Nachricht für mich keine Überraschung. Oder besser gesagt: Es war eine Überraschung, aber in einem ganz anderen Sinn, denn ich war ehrlich gesagt erstaunt, das 81,5 Prozent der Berliner immer noch schuften.

Hier in Kreuzberg scheint es nämlich, als ob fast die ganze Gesellschaft Pause machen würde. Die Cafés sind schon um zwei Uhr nachmittags gerammelt voll, und wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, ist die Kundschaft meistens gerade zu dieser Zeit aufgewacht. Man bekommt das Gefühl, dass die überwiegende Mehrheit der Berufstätigen in Kreuzberg Kellner, Barkeeper und Imbissbesitzer sind.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich finde diese Situation toll. In Amerika ist man leider dazu gezwungen, fast jede Arbeit anzunehmen. Arbeitslosigkeit bedeutet fürchterliche Armut, und es ist daher nicht ungewöhnlich, kellnernde Diplommathematikerinnen zu sehen. Manchmal ist das lustig, weil die die genaue Wahrscheinlichkeit, ob man das richtige Essen bekommt, schon im Voraus ausrechnen können. Aber meistens ist es eher albern.

In Kreuzberg scheint es dagegen sehr viele Leute zu geben, die ihre Arbeitslosigkeit ausnutzen, um Romane zu schreiben. Sie sitzen stundenlang im Café, rauchen, sehen bekümmert aus, und schreiben Unmengen an klein geschriebenen Wörtern in ihre kleinen schwarzen Büchlein. Vielleicht sind es auch nur sehr lange und komplizierte Einkaufslisten. Aber so oder so: Die Leute sehen aus, als ob sie ihre freie Zeit sinnvoll nutzten.

Natürlich gibt es Probleme in dem Arbeitslosen- und Lebenskünstlerbezirk. Ich habe zum Beispiel bemerkt, dass sehr viele Leute hier unter einem gewissen Verfolgungswahn zu leiden scheinen. Die Menschen schauen sich ständig misstrauisch um, gucken einen total schräg an, wenn man um Feuer bittet, und benehmen sich auch sonst so, als ob sie gerade eine zerstückelte Leiche in der Mülltonne versteckt hätten.

Am schlimmsten ist es mit der Staatsgewalt. Die Bullen hier in Berlin sind im Vergleich zu amerikanischen Verhältnissen sehr zurückhaltend und nett, aber trotzdem sieht man überall die Graffitiparolen „Fuck the Cops“. Und obwohl ich noch keinen Ersten Mai erlebt habe, scheint mir, dass den jungen Kreuzbergern das Wasser im Mund zusammenläuft, wenn sie über das jährliche Krawallfest sprechen: Da darf man sich mit der Polizei prügeln!

Ich glaube, die Ursache dieser gesellschaftlichen Fehlentwicklung gefunden zu haben: Es ist der Fernseher. Weil man nicht den ganzen Tag im Café sitzen kann und weil das Schreiben von Romanen bzw. Einkaufslisten sehr anstrengend sein kann, muss man sich manchmal stundenlang vor dem Fernseher entspannen. Aber wenn man nicht aufpasst, kann das Glotzen auch schlimme Folgen haben.

Im deutschen Fernsehen gibt es nämlich sehr viele Krimis, was ich generell auch begrüße, weil ich dieses Genre sehr schätze. Aber die meisten deutschen Krimis unterscheiden sich sehr von den amerikanischen, denn die Kommissare können totale Arschlöcher sein. Vielleicht haben Sie es ja noch nicht bemerkt, aber diese Typen vom „Tatort“ haben weder Manieren noch Ahnung. Oft verdächtigen sie die ganze Zeit den Falschen, verfolgen ihn gnadenlos, und nur im letzten Moment finden sie durch einen manchmal zufälligen Hinweis den eigentlichen Täter. Das sind nicht gerade Geschichten, die das Vertrauen in die Justiz fördern.

Meiner Meinung nach schauen die Leute viel zu viele Krimis dieser Art und sind deswegen jetzt darauf eingestellt, verfolgt zu werden. Wer weiß, ob der Typ neben ihnen nicht einen unbeschreiblich grausamen, aber zugleich intelligent geplanten Mord begangen hat.

Um diese Fernsehkrankheit zu bekämpfen, muss man sehr auf die eigene TV-Diät aufpassen. Für jede Stunde „Tatort“ sollte man eine Stunde mit den freundlichen Leuten im „Forsthaus Falkennau“ verbringen. Die deprimierenden Nachrichten der „Tagesschau“ sollten mit einer „Sendung mit der Maus“ ausgeglichen werden. Und als arbeitsloser Schriftsteller schaut man „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ am besten überhaupt nicht, weil die allgemeine Verdummung sich leicht auf das eigene Buch übertragen kann.

Arno Holschuh (27) arbeitete als Reporter in Kalifornien und lebt derzeit für ein Jahr als Fulbright-Stipendiat in Berlin