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Archiv-Artikel

Eruptionen aus dem Nichts

In den bittersten Momenten setzt es den größten Applaus: Die angelsächsische Welt fiebertdem Cricket World Cup in Südafrika entgegen, bei dem die Gastgeber einiges gutzumachen haben

aus Kapstadt BERND MÜLLENDER

Die Nachbarin links döst beim Stricken immer wieder ein. Weiter oben auf der weiten Tribüne spielen welche Karten. Und die beiden zur rechten haben sich seit Stunden im Wechsel Bier, Sandwiches, einen Sonnenbrand und dann wieder ein Bier geholt. Jetzt schreien sie vor Begeisterung, als der Ball auf die Nachbartribüne geprügelt wird. Der Stadionneubau ist mit seinen mächtigen viktorianischen Gemäuern ein später Gruß an die große Zeit des britischen Empire.

Von Cricket ist die Rede. Jener Sportart, die die nicht-angelsächsische Welt lächelnd fragen lässt: Sport? Mit Spielern, die oft viertelstundenlang nur herumstehen, manche jenseits jeder leibesüblerischen Idealfigur? Mit diesen absonderlichen Regeln und Statistiken? Am Sonntag beginnt in Kapstadt der World Cup. An Straßenkreuzungen zählt der elektronische Countdown die Wartezeit herunter, ein Fernsehsender zeigt seit Dezember nichts als Cricket, 24 Stunden am Tag, ohne Pause.

25.000 Menschen, fast nur Weiße, sind bei großer Hitze zum Onedaymatch gekommen ins Newlands Cricket Stadium. Südafrika spielt gegen Pakistan. So ein Spiel dauert neun Stunden. Die erste Halbzeit werfen nur die Pakistani; 300 Bälle in rund vier Stunden. Die Südafrikaner verteidigen ihre Wickets, jene putzigen Holzkonstruktionen aus drei senkrechten Stangen und zwei lose aufgelegten Stöckchen, und versuchen, Runs zu machen. Der Reiz besteht darin, dass aus dem Nichts immer etwas Aufregendes passieren kann. Was allerdings selten ist und nur dann vorkommt, wenn man grad mal wieder nicht aufgepasst hat.

Ersatzweise bietet die riesige Anzeigetafel endlose Zahlenkolonnen und Statistiken. Südafrikas Batsman Hendrik Dippenaar wird gefeiert für 93 Runs – persönlicher Onedaymatch-Rekord, sagt der Sprecher. Jubel. Und zack, hat der Mann mit der Weidenholzkeule einen Moment nicht aufgepasst: Sein Wicket ist wegrasiert. Dippenaar muss gehen und bekommt im Moment des Versagens prasselnden Applaus. Das ist, als würde ein Fußballverteidiger nach einem Eigentor umjubelt ausgewechselt, weil er bis dahin keine Eigentore gemacht hat. Batsmans Tun ist so angelegt, dass es fast immer mit schmählichem Scheitern endet.

Titelverteidiger und heißer WM-Favorit sind „die ehrfurchtgebietenden Australier“ (Sunday Times). Aber Südafrika hat Platzvorteil. Und der Pitch ist entscheidend, sagen Cricketer: Grassorte, Mahdhöhe, Bodenhärte, Luftfeuchtigkeit, Sprungverhalten der Bälle, die Auswirkungen bei wechselndem Wetter. Und Südafrika hat etwas gutzumachen: Im Halbfinale 1999 gegen Australien fehlte ein einziger Run zum Triumph. Sie schafften ihn nicht. „Das Leben geht weiter“, sagte einer damals, „ich weiß nur noch nicht, wie.“

Vielerlands wurde die Blamage damals bejubelt. Denn Südafrika gilt ein bisschen als Bayern München des Weltcricket. Zum einen, weil das Spiel zu Apartheidzeiten von der weißen Herrenklasse bestimmt war (heute ist immerhin ein Schwarzer im Nationalteam). Und wegen des Riesenskandals um Hansie Cronje. Südafrikas Exkapitän wurde vor drei Jahren der Bestechlichkeit überführt. Er hatte durch gezieltes Missbatten Wetten manipuliert. Cricket ist besonders in Pakistan und Indien ein Dorado der Zocker, mit Millionenumsätzen bei jedem Match, die Wettmafia immer dabei. Cronjes lebenslange Sperre hielt nur kurz: Im Juni 2002 starb er bei einem Flugzeugabsturz.

Bob Marley sang einst in seinem Reggae-Hit „I don’t like cricket“ – mit der Erklärung „ … oh no. I love it!“ Mit der Zeit erschließt sich die Liebe ein wenig. Cricket ist ein hochstrategisches Spiel. Die entscheidende Rolle kommt weniger den Bowlern mit ihrer verrenkten Wurftechnik zu, sondern den gepanzerten Keulenmännern. Deren Aufgabe ist immer zwiespältig: blitzschnell entscheiden zwischen vorsichtigem Abblocken (Wicket verteidigen) und offensiver Attacke (Ball weit wegschlagen, um Runs zu machen). Aber bitte, die manchmal irrwitzig mit Spin geworfenen oder pfeilschnellen Bälle (bis 150 km/h) sind gezielt zu treffen – sonst fängt einer der zehn gegnerischen Catcher den Ball aus der Luft. Dann gilt das Wicket auch als gefallen. Und Mr. Batsman muss gehen.

Ende der ersten Halbzeit plötzlich Eruptionen aus dem Nichts. Südafrikas Mark Boucher donnert den Hartlederball erst gegen die ferne Bande (zählt vier Runs) und dann in einer Viertelstunde viermal für eine Sechs in die Tribünen, einer fliegt sogar darüber. Die Fastgetroffenen toben vor Begeisterung. 265 Runs sind es am Ende, ein gutes Resultat. Die Pause dauert eine Stunde. Cricket macht hungrig.

Acht der 54 WM-Spiele sind in Kenia und Simbabwe angesetzt. Was für politischen Zündstoff sorgt. Englands Regierung empfahl, auf das Spiel bei Gastgeber Simbabwe zu verzichten – wegen deren Diktator und Farm-Enteigner Robert Mugabe. Neuseeland soll in Kenia antreten. Nach dem Terroranschlag von Mombasa sind die Kiwis zum Boykott entschlossen. Im Juni war das Team in einem Hotel in Karachi nur um fünf Minuten einem blutigen Bombenattentat entgangen.

In Newlands fällt die Entscheidung spät am Abend. Südafrika hat noch 20 Bälle, die Pakistani müssen noch 42 Runs zum Sieg machen. Kaum zu schaffen. Entsprechend wild prügeln ihre Batsmen drauflos. Einer nach dem anderen fliegt umjubelt raus. Als der zehnte erwischt wird, ist aus Mangel an Spielern Schluss. Südafrika hat gewonnen, 265:232.

Wer außer den Gastgebern und Australien könnte am 23. März in Johannesburg im Finale stehen? Neuseeland? Nur wenn das junge Team mit Altstar Chris Cairns über sich hinauswächst. Pakistan? Deren Werferasse sind gefürchtet, aber noch unzuverlässiger als eine langfristige Wettervorhersage. Die Engländer, die das langwierige Spiel einst aus Langeweile beim Kolonialherrendasein erfunden haben müssen? Kriegen ihre Hölzchen seit zehn Jahren nicht mehr auf Weltklasseniveau verteidigt. Indien, wo Cricket Sportart Nr. 1 ist? Sie haben nur den weltbesten Batter Sachin Tendulkar. Der ist mit zehn Millionen US-Dollar im Jahr bestverdienender Sportler des Subkontinents und wird, sagen Spötter bewundernd, mehr verehrt als die heiligen Kühe.

Holland übrigens, neu im Cricketzirkus mit einer Menge gebürtigen Bowl-Rijkaards und Bat-Gullits, wird ein ehrbares Resultat gegen Namibia zugetraut. Den Titel holen sie nur, wenn überall sonst lauter Hansie Cronjes mitwirken.