Die schöne Frau Trotzdem

Sie war melancholisch und sentimental, aufgekratzt und kühl. Erst in ihren späten Filmen probte sie widerständigere Haltungen: Anouk Aimée wird in diesem Jahr auf der Berlinale mit einem Bären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet

von BIRGIT GLOMBITZA

Sie hat etwas von einer Kunstlehrerin. Eine dieser Entrückten, die ihren Job mit somnambuler Sicherheit verrichten. Meistens trugen diese Geschöpfe, die die Wirklichkeit nur begrenzt mit uns teilten, schwarze, weiche Hosen, schwarze enge Rollkragen-Pullover und überraschend groben Silberschmuck – ein existenzialistischer Guckkasteneffekt, der den Blick direkt in ihr Gesicht lenkte. Nehmen wir Anouk Aimée als Idealtypus dieser Kunsterzieherinnen, dann bedeutet das: auf ein markantes Kinn, einen breiten und dennoch dezenten Mund, eine klassisch gerade Nase und ein dunkles Augenpaar, das von eindrucksvoll geschwungenen Augenbrauen und einem perfekten Lidstrichs eingefasst wird.

In schwärmender Betrachtung entstehen Andachtsbilder. Das Kino produziert sie gleich reihenweise. Eine Nahaufnahme von Anouk Aimée, und der Film kniet nieder vor einer monumentalen Traurigkeit, von der es in diesem kleinen Leben keine Erlösung zu geben scheint. Wie es sich für eine wahre Melancholikerin gehört, scheint sie Tod und Verschwinden auch in den größten Glücksmomenten nie aus den Augen zu verlieren. Und wie es zu einer Schauspielerin passt, die wie kaum eine andere ihre Karriere zumindest in der Öffentlichkeit mit Diskretion, Kontrolle und Distanz absolvierte, beweist sie dabei stets ein gutes Gespür für das eigene Pathos.

Anouk Aimée kam als Nicole Dreyfuß und als Tochter einer Schauspielerin und eines Schauspielers in Paris auf die Welt. Ein Name, so fanden Marcel Carné und Jacques Prevert mit dem ein damals 13-jähriges Mädchen nichts werden könne, sei er doch in Frankreich immer noch zu sehr mit der Dreyfuß-Affäre verbunden. Anouk nannte sie sich nach ihrer Rolle in ihrem ersten Film „La maison sous la mer“, den Henri Calef 1946 drehte. Aimée kam hinzu, weil „Prévert meinte, wenn ich einmal vierzig sei, könne ich mich nicht immer noch mit meinem Vornamen anreden lassen. […] Dann fiel ihm Aimeé ein, ‚Geliebte‘, und diesen Namen behielt ich natürlich“, erinnerte sich Anouk Aimeé in einem Interview mit der Welt.

Doch die „Geliebte“, so maulte die eifersüchtige französische Presse in den 60ern, ließ sich vor allem vom italienischen Film umschwärmen. Federico Fellini besetzte sie in „La Dolce Vita“ (1959) und in „8 1/2“ (1962) als einer der wenigen Regisseure, nicht als rätselhafte, sondern als aufgekratzte, lebensdurstige Frau mit ungebremstem Geltungsbedürfnis. Auch Jacques Demys „Lola“ (1961) nimmt sich in Aimées Filmografie wie eine exzentrische Eskapade aus.

Abonniert bleibt sie auf die Rolle einer Sphinx, die sich mit den Mechanismen der Enttäuschung auskennt. Wenn Anouk Aimée spielt, wird sie zu ihrer eigenen Stellvertreterin, die ihren Körper als Vehikel für eine große, unbestimmte Sehnsucht in die Geschichte stellt – damit all die Erzählungen von einem Mann und einer Frau weiter gehen können. Wenn die Ernüchterung einer Nacht schwer auf den Augenlidern liegt, wenn sie mitten im Sommer die Jacke enger um die Schultern zieht oder einfach nur ihren Füßen beim Gehen zuschaut, dann können auch ihre Figuren Leib und Seele nur noch notdürftig zusammenrechnen.

Ihre Sperrigkeit, ihre Kühle und das Rätsel ihrer scheinbaren Abwesenheit liefern eine Ambivalenz und Vagheit, die selbst den schlichtesten Stoff mit Mehrwert versorgten. Auch Schnulzen wie Claude Lelouchs „Ein Mann und eine Frau“ von 1966 verleiht sie eine vorübergehende Tiefgründigkeit. Aimée brachte die zartbittere Liebesgeschichte von einer allein erziehende Witwe, die als Scriptgirl beim Film arbeitet, und einem jungenhaften Rennfahrer, dessen Frau sich vor lauter Sorge um ihn das Leben nahm, Weltruhm ein. Von den Vertretern der Novelle Vague wurde der Film mit seinem schlichten Herzschmerz und seinem Daba-daba-du-Soundtrack als peinliche Belanglosigkeit, Lelouch als effektversessener Illusionist geohrfeigt. Nicht aber seine Hauptdarstellerin, die mit ihrer Flüchtigkeit und Unbestimmtheit nur allzu gut ins ästhetische Konzept gepasst hätte – wären da nicht schon Jean Seberg, Jeanne Moreau auf der einen und Frederico Fellini, Sydney Lumet und George Cukor auf der anderen Seite gewesen.

Nachdem „Ein Mann und eine Frau“ in Cannes ausgezeichnet worden war und sogar einen Oscar in Empfang nehmen durfte, interessierte sich auch Hollywood für die Französin. Wenn auch vor allem, um sie als europäisches Import, als unbekannte Größe ins rein Sentimentale umzutopfen, wie in Sydney Lumets „Ein Hauch von Sinnlichkeit“ von 1968.

Sie spielt bei Vittorio De Sica, Alberto Lattuada und Bernardo Bertolucci. Mal ist sie eine leukämiekranke Mutter, die von ihrem Sohn erst bemitleidet, dann begehrt wird („Meine erste Liebe“, 1978, Regie: Elle Chouraqui), dann die Gattin eines Käsefabrikanten, die um ihren entführten Sohn bangt („Die Tragödie eines lächerlichen Mannes“ 1981, Regie: Bernardo Bertolucci). Sie ist die spröde, aber loyale Sekretärin „Stresemanns“ (1956, Regie: Alfred Braun) und nach 20 Jahren wieder die Frau, die in der Geschwindigkeit der Gegenwart ankommen muss, um einen Rennfahrer zu lieben (in „Ein Mann und eine Frau – 20 Jahre später“, 1986, Regie: Claude Lelouch).

In vielen ihrer späten Filme ist ein stolzes Trotzdem in ihr Spiel eingezogen. Auf eine Katastrophe folgt jetzt schon mal ein Fest. Da heißt es, Haltung bewahren. Auch wenn etwas Gewaltiges sie zusammengestaucht hat und Körperachse ebenso wie Frisur sich von der Mitte aus wieder aufrichten. Wie bei der Designerin Christine in Robert Altmans „Prêt-à-porter“ (1994), die ihr Label nur vor der Lächerlichkeit und dem Ausverkauf zu retten vermag, in dem sie ihre Models splitternackt über den Laufsteg schickt und sich selbst als Kaiserin der neuen Kleider und als nackte Wahrheit in ihre Mitte stellt. In der Arena der Eitelkeiten ist das ein nicht wirklich spektakuläres oder unerwartetes Finale. Aber eines, das mit Anouk Aimeé besonders würdevoll gerät.

Inzwischen ist sie 70. Alt genug, um der Tragik ihrer Figuren eine angenehme Abgeklärtheit beizumischen. Und in Gerard Depardieus „Napoleon“ (2001) reichen ihr wenige Einstellungen, um als resolute Feldherrenmutter, der die Zukunft Frankreichs weitaus weniger Sorgen macht als die eigene Rente, aus dem TV-Spektakel hervorzutreten.

Trotzdem Anouk Aimée sich den Luxus erlaubte, immer wieder in ihrem Haus am Montmartre mit einem Haufen Katzen zu verschwinden (nach „Justine“ von George Cukor sogar für sieben Jahre), bringt es ihre Filmografie auf rund 70 Filme. Darunter erstaunlich wenig Großartiges. Aber Aimée hat wohl zeitlebens das Kunststück fertig gebracht, die Leinwand als Grundierung für ihr eigenes Portrait zu nutzen. Als eine ferne Frau zwischen Wachsein und Schlafen. Mit diesem verhangenen Blick, der die großen Dinge wie Liebe und Tod nur mit einem Wimpernschlag voneinander trennt.