: Zahlenspiele in Krisenzeiten
Der Journalist als schwer umworbenes Geschöpf: Über Werbeflut und Schuldenberge der öffentlichen Theater sowie die Rechenexempel der Bühnenvereine, aus der Perspektive einer Kulturredakteurin
von KATRIN BETTINA MÜLLER
Das Umrechnen hat irgendwann in meiner Zeit als Studentin begonnen. Das Umrechnen diente der Legitimation von Ausgaben. Ich wollte mir, angezogen von den glänzenden kleinen Farbblöcken, einen Aquarellkasten kaufen, konnte aber gar nicht malen. Also habe ich ausgerechnet, dass der Kasten das Vierfache einer Kinokarte kostete und die Sache deshalb in Ordnung ginge, wenn ich mich mindestens vier Abende lang mit den Farben amüsierte. Das hat geklappt.
In meinem Leben als freie Autorin gab es eine weniger befriedigende Rechnung. Da saß ich oft tagelang zu Hause, ohne einen konkreten Auftrag und also auch ohne Einnahmen und sah so vor dem inneren Auge einen Zähler wie eine Eieruhr ablaufen. Die einzige Beschäftigung war, die langfristig angestaute Post (das war noch die Zeit vor E-Mail und Fax) mit Pressemitteilungen zu öffnen, auf der Suche nach möglichen Themen. Je kleiner die abschickende Institution, desto umfangreicher war oft das an mich abgeschickte Material. In mich wurden Hoffnungen und Portogelder investiert. Je höher der Berg von zu besuchenden Kunstprojekten wuchs, desto tiefer sah das Tal aus, das ich mangels Nachfrage aus den Redaktionen zu durchqueren hatte. Die Höhe des Berges verkörperte so etwas wie ein Barometer des Frustes und schlechten Gewissens – so viel ungesehene Kunst. Es war überhaupt nicht beruhigend, dann auszurechnen, dass das in mich investierte Porto an diesen Tagen die Höhe meiner Einnahmen bei weitem überschritt.
Einerseits. Es gibt dazu ein Andererseits, dessen Konstruktion einiger Fantasie und Rechenkünste bedarf, aber schließlich hat man Zeit in diesen Auftragslöchern. Man führt an der Schaltstelle zwischen den Kulturproduzenten und der Öffentlichkeit doch gewissermaßen ein Leben in Luxus. Man zahlt als Kunstjournalist mit gültigem Presseausweis zum Beispiel meistens keinen Eintritt und könnte jetzt den Produktionsetat durch die Zahl der Besucher teilen und sich diese Summe auf einem inneren Konto gutschreiben – so als symbolischen Ausgleich für die fehlenden äußeren Werte.
Das funktioniert auch ganz prima mit dem Theater. Nehme ich beispielsweise die durchschnittliche Summe, mit der ein Theaterticket subventioniert wird – 90 Euro nach einer Statistik über die Spielzeit 2000/2001 –, und multipliziere sie mit der Zahl meiner Theaterbesuche in einem Monat (13 Veranstaltungen), dann kommt da das befriedigende Sümmchen von 1.170 Euro heraus. Schon fühlt man sich wie ein im Luxus schwimmendes Geschöpf. Wie sich diese Summe zum Honorar verhält, verschweige ich lieber.
Natürlich sind solche Rechnungen äußerst gefährlich, zumal in Zeiten, wo Sparsamkeit zum bürgerlichen Pflichtprogramm wird und Geiz neuerdings als Tugend zählt. Noch stand der Bus des Bundes für Steuerzahler, der Verschwendungen des Staates ankreidet, zwar nicht vor meiner Tür, aber Freikarten sind schon lange ein Thema für die Sparkommissare. Ob man durch das Einsparen von Freikarten nicht ausgleichen könnte, was den Theatern durch die Erhöhung der Tarife fehlt, ist eine beliebte Rechenaufgabe.
Ein Freund von Zahlenspielen ist auch Rolf Bolwin, der Vorsitzende des Bühnenvereins: Er hat ausgerechnet, dass der neue Flächentarif die öffentlichen Kassen mit 10 Milliarden Euro belastet, und das sei fünfmal so viel wie das, was alle öffentlichen Bühnen und Orchester in Deutschland zusammen kosten. Der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Jürgen Flimm, und die Kulturstaatsministerin Christina Weiss fordern inzwischen den Ausstieg der Bühnen aus den Tarifverträgen, weil die Gehaltserhöhungen nichts mehr zur Produktion übrig lassen.
Mehr hat mich der Zahlenvergleich eines Theatergeschäftsführers aus Bremen beeindruckt, der den Personalstand in den Bühnenjahrbüchern von 1902 und 2002 verglich. Auf der Bühne ist diese Zahl gleich geblieben, aber hinter den Kulissen, in Werkstätten, Technik und Verwaltung, ist sie in der Zeit fast um ein Vielfaches gestiegen. Backstage bestimmt, was auf der Bühne noch möglich ist.
Nun ist einer der Hoffnungsträger, um aus dem Dilemma, dass die vertragliche Struktur die Häuser von innen auffrisst, herauszukommen, stets die Abteilung Management und Marketing. Die wird ganz bestimmt nicht mehr nach den Tarifen des öffentlichen Dienstes bezahlt. Je mehr die Institutionen aufgefordert sind, eigene Einnahmen zu machen, desto mehr investieren sie in Werbung und Öffentlichkeit. Diese Abteilungen werden ausgebaut, und je jünger eine Institution, desto mehr wächst das Segment, das sich um die Öffentlichkeit kümmert, im Verhältnis zu den anderen Abteilungen. Sie erstellen das Image, sie basteln am Auftritt einer Institution, sie sind die neuen Kreativen unserer Zeit. Mit ihren Ideen füllen sich dicke Pressemappen – pardon, press-kits heißt das jetzt, die großzügig verschickt werden. Der Berg der Werbung um unsere Gunst wächst und verstopft die Ablagen der Zeitungsredaktionen. Insofern müsste ich mir eigentlich keine Sorgen machen. Das Leben im Luxus geht weiter. Und doch, und doch … werde ich den Verdacht nicht los, dass diese glänzenden Fotos und höchst bedeutungsvollen Mitteilungen mit ihrem Glanz eigentlich nur die Höhe eines Schuldenbergs überstrahlen wollen, der sich dahinter verbirgt.