: Es hätte gesund sein können
Wie hoch die Zahl der Kunstfehler bei Geburten ist, wird in keiner Statistik erfasst. Der Nachweis, dass ein Arzt oder eine Hebamme eine Schädigung des Neugeborenen verursacht hat, gestaltet sich in jedem Einzelfall als nervenaufreibend
von CHRISTINE SCHMIDT
Sebastian will nicht gestört werden. Ganz versunken schaut er auf den Fernseher: Kinder singen Lieder im Schnee. Der Zwölfjährige macht unentwegt die Schublade des Tisches auf und zu und lächelt dabei abwesend. Sebastian ist seit seiner Geburt hirngeschädigt, er kann nicht sprechen und leidet an epileptischen Anfällen. „Er hätte gesund sein können“, sagt seine Mutter Gundula Pape. Wenn die behandelnden Ärzte nicht drei Wochen über den errechneten Geburtstermin gegangen wären. Wenn sie die Schwangere, die keine Kindsbewegungen mehr spürte, nicht stundenlang allein im Kreißsaal gelassen hätten. Und wenn der Junge nach seiner Reanimation sofort und nicht erst Stunden später auf die Kinderintensivstation verlegt worden wäre.
Gundula Pape wusste, dass da etwas schief gegangen sein musste. Das Gleiche dachten Anna Wagner (Name geändert) und Hedda Jansen über die Geburten ihrer Kinder. Alle drei Familien zogen vor eine Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der Ärztekammer und fochten anschließend vor Gericht einen „jahrelangen zermürbenden Kampf“, so Jansen.
Wenn Eberhard Krickhahn Sätze wie „Das ist Schicksal“ hört, redet er sich in Rage. „Die Mediziner“, sagt der Geschäftsführer der Bundesinteressengemeinschaft Geburtshilfegeschädigter (BIG) aus Stadthagen, „wollen sich vor der Verantwortung drücken und reden sich heraus“ – in der Hoffnung, dass die Eltern der geschädigten Kinder die Behinderung hinnehmen und nicht vor Gericht ziehen. Und meistens, so Krickhahn, haben sie damit Erfolg.
Etwa 12.000 medizinische Behandlungsfehler werden pro Jahr in Deutschland anerkannt, ein Drittel davon in der Gynäkologie, heißt es bei der Gesundheitsberichterstattung des Bundes am Berliner Robert-Koch-Institut. „Reichlich untertrieben“, findet Krickhahn diese Zahl. Statistiken über Geburtsfehler werden nicht erhoben, so das Statistische Bundesamt in Bonn. Knapp achthunderttausend Babys kommen jährlich in Deutschland auf die Welt. Krickhahn vermutet, dass bei dreißig- bis vierzigtausend Neugeborenen Behinderungen vermeidbar wären, wenn Schwangerenvorsorge und Geburtshilfe optimal seien und eine Kinderfachklinik für den Notfall zum Krankenhaus gehörte.
Auch Marlis Meierling vom Arbeitskreis Kunstfehler in der Geburtshilfe (AKG) hat keine genauen Zahlen. Für die alten Bundesländer schätzte der Selbsthilfeverein die Zahl der Behandlungsfehler 1987 auf etwa 15.000 Geburten im Jahr.
Zehn Jahre, mehrere dicke Gutachten, unzählige Telefonate und Briefe sowie einen ablehnenden Bescheid einer Schlichtungsstelle hat es gedauert, bis Gundula Pape es schriftlich hatte: Ärzteversagen machte ihren Sohn behindert. Ihr Anwalt und die Versicherung des Krankenhauses einigten sich auf ein einmaliges, sechsstelliges Schmerzensgeld. „Ich war kurz vorm Aufgeben, aber dann hat zum Glück meine Mutter die Klage in die Hand genommen“, so die 39-Jährige aus Caputh.
Hedda Jansen brauchte acht Jahre lang gute Nerven. „Wenn ein Brief von meinem Rechtsanwalt kam, ging mein Blutdruck in höchste Höhen“, sagt die 51-Jährige aus Birkenwerder. „Ganz naiv“ hätte sie kurz nach der Geburt ihres dritten Sohnes Hendrik versucht, ihren Fall von einer Schlichtungsstelle klären zu lassen. Bei Hendriks Geburt wurde offensichtlich, was der Frauenarzt nicht gesehen hatte: Der Junge war unterversorgt und wog bei seiner Geburt nur 1.880 Gramm. Der Arzt, so die Eltern, hätte anhand der Ultraschallbilder erkennen müssen, dass das Kind nicht richtig von der Plazenta versorgt wurde, und es sofort holen müssen. „Im Brutkasten“, so Hedda Jansen, „wäre es ihm besser gegangen als in meinem Bauch.“ Der Zwölfjährige ist spastisch gelähmt und lernbehindert.
Von einer Schlichtungsstelle will Jansen heute nichts mehr wissen. „Die haben meine Darstellung überhaupt nicht beachtet“, sagt sie. Die Vereinigung sprach sich im Sinne des Arztes aus, die Familie ging vors Landgericht. Obwohl ein Gutachten die Meinung der Eltern bestätigte, gaben auch die Richter dem Arzt Recht. Also ging es vors Oberlandesgericht. Schließlich gab der Arzt selbst den Fehler zu. Der Familie wurde Schmerzensgeld und eine Rente für Hendrik zugesprochen. Das wiederum passte der Versicherung des Arztes nicht, die daraufhin vor den Bundesgerichtshof zog. Aber ohne Erfolg. Schließlich einigte sich der Anwalt mit der Versicherung auf einen Vergleich, da der Arzt nur bis fünfhunderttausend Euro versichert war, und damit de facto unterversichert.
Etwa zweihundert Neuanfragen von Eltern, die einen Kunstfehler bei der Geburt ihres Kindes vermuten, gibt es jährlich bei der BIG; der AKG erhält pro Woche zirka zehn Anfragen. Die untereinander befreundeten Selbsthilfevereine kümmern sich um Akteneinsicht, erfahrene Rechtsanwälte und Ärzte gehen ehrenamtlich die Unterlagen durch und raten zu einer Klage – oder auch ab. Mit einem versierten Anwalt liegen die Erfolgsaussichten immerhin bei 75 Prozent. „Wir sind kein Kampfverband gegen die Ärzte“, sagen die Mitglieder der Selbsthilfegruppen, „wir wollen aber, dass der Arzt bei Fehlern seine Versicherung einschaltet.“ Kein Mediziner müsse persönlich haften.
Dass der Geburtshelfer ihrer Tochter zur Rechenschaft gezogen wurde, macht Anna Wagner nicht glücklich. Nur ein wenig Genugtuung spürte sie damals, drei Jahre nach dem Tod ihres Kindes. Nach mehreren Jahren Familientherapie hat sie mittlerweile das Gefühl, wieder mit beiden Füßen auf dem Boden zu stehen. „Katharina wäre in diesem Jahr neun Jahre alt geworden“, sagt sie. Und vielleicht hätte Anna Wagner auch vier Kinder bekommen, wie sie es sich gewünscht hatte. Aber es kam alles ganz anders und wurde zum Albtraum. Die Geburt ihrer ersten Tochter war schon schwer gewesen, das zweite Kind sollte noch größer und schwerer sein.
Die Geburt ging nach dreizehn Stunden bei der Privatpatientin nicht voran. Dreimal wurde der Chefarzt eines Berliner Krankenhauses – der Rufbereitschaft hatte – informiert, er solle sofort kommen. Beim dritten Anruf reagierte er schließlich, war aber erst 45 Minuten später im Kreißsaal. Er entschied sich zum Notkaiserschnitt. „Als ich aus der Narkose aufwachte, sagte man mir, dass meine Gebärmutter gerissen war und man sie entfernt hatte und dass es meiner Tochter aufgrund des langen Sauerstoffmangels sehr schlecht ginge“, so die Vierzigjährige.
Katharina musste reanimiert werden, zwei Wochen später starb sie. „Warum ist der Chefarzt nicht sofort gekommen?“, wollte die Mutter wissen und bat um ein Schlichtungsverfahren bei der Schiedsstelle. Die gab den Eltern Recht. Der Arzt hätte sofort zur Stelle sein müssen. Die Familie nahm sich einen Anwalt, der sich außergerichtlich mit der Versicherung des Krankenhauses auf ein Schmerzensgeld von vierzigtausend Euro einigte.
„Drei Jahre zog es sich hin, immer wieder musste ich Stellungnahmen schreiben und mich an den Albtraum erinnern, den ich so gerne vergessen hätte“, sagt Anna Wagner. „Das Geld macht nicht glücklich, weiß Gott nicht. Und der Schuldige arbeitet und lebt einfach so weiter. Sein Leben hat sich nicht verändert.“
CHRISTINE SCHMITT, 37, lebt als freie Autorin in Berlin