Anpassung an feuchte Landschaften

Die Pointen stehen wie Orchideen im Sumpf: Spike Jonzes „Adaptation“ im Wettbewerb bohrt sich mit seiner Selbstreflexivität immer weiter in die verwickelte Story um den Drehbuchautor Charlie Kaufmann und seinen banalen, heiteren Zwillingsbruder

von DIEDRICH DIEDERICHSEN

Noch bevor man ein erstes Bild sieht, jammert Charlie Kaufman aus dem Nichts. Die Null. Dabei hat er als Drehbuchautor mit „Being John Malkovich“ einen großen Erfolg erzielt. Doch in durchwachten Nächten zermürben ihn große Fragen: Was soll das alles? Woher kommen wir?

Darauf kriegt er eine prompte Antwort: In einer knappen Minute verfilmt Spike Jonze die Geschichte vom Urknall über Entstehung der Galaxien, Erde, Dinos, Indianer, Urbanisierung des Großraums LA, in ein Krankenhaus, Kreißsaal, bis Kaufmans Geburt. Die Idee zu dieser Bilderentladung stammt, wie wir später erfahren werden, aus dem Drehbuch, an dem Kaufman gerade sitzt und dessen Entstehung als Drehbuch zu schildern ihm im weiteren Verlauf der Geschichte einfallen wird. Wenn die Erzählung das Erzählte schließlich einholt, erleben wir Kaufman in einer seiner seltenen Rasereien ins Diktiergerät brüllen: „Kaufman brüllt ins Diktiergerät!“ Kaufman ist nicht nur ein impotenter, fettleibiger Trauerkloß, er ist auch ein europäisch geprägter Künstler mitten im Feindesland der Kulturindustrie. Sein Zwillingsbruder hingegen wirkt gewinnend. Er will auch Autor werden, aber anders, amerikanischer. Er kauft sich How-to-Bücher und besucht Seminare, auf denen er Regeln lernt, die sein Bruder verabscheut. Der soll vielmehr einen dieser Reportage-Essays aus dem New Yorker adaptieren, eine Story über einen obsessiven Orchideenzüchter, geschrieben von der Star-Staff-Writerin Susan Orlean. Genau das Richtige für den Autor von „Being John Malkovich“.

Okay, „Adaptation“ ist selbstreflexiv, bis sich die Balken des Diskurses biegen. Aber genau das bringt etwas Merkwürdiges hervor. Führt über die Selbstreflexivität der Weg meistens nach draußen, so bohrt sie sich hier immer weiter in die Immanenz der Story und ihrer Figuren. Wenn wir Susan Orlean (Meryl Streep), der real existierenden Autorin des real existierenden Buchs „The Orchid Thief“, bei ihren Recherchen durch die Sümpfe Floridas und das exzentrische Leben von John Laroche folgen, sehen wir eigentlich nur dem Autor Kaufman beim Imaginieren zu. Jeder weitere Versuch, seinem Drehbuch einen konzeptuellen Boden zu verschaffen, scheitert daran, dass jede Idee mit seinen Wünschen konkurrieren muss: konstruktive Gedanken werden zu begehrten Personen. Was wiederum an seiner lädierten Libido liegt: Wie kann jemand, der dringend einen Partner braucht und gleichzeitig Angst vor allen Kandidatinnen hat, in Ruhe reflektieren? Reflexion wird bei Kaufman zur Masturbation. Die Idee, dass aber auch die in der Hitze der Bettwäsche geborenen Figuren in ihren Handlungen einem handfesteren Begehren folgen, als es sich Kaufman auszumalen traut, trägt der Bruder bei, der inzwischen sein erstes Drehbuch verkaufen konnte. Er bricht mit dem Prinzip, dass alles, was wir erfahren, entweder bei Orlean im Buch steht oder von Kaufman erlebt wurde, und zeigt, was er kann: Mord, Sex, Verfolgungsjagden und Drogen.

Kaufmans Interpretation von Orleans Buch lief auf eine Theorie der Faszination hinaus, nach der irgendetwas – Orchideen z. B. – das Begehren auslöst, aber dies nie aus sich heraus stillen kann, ein „Objekt klein a“ eben. Orlean wiederum kommt von Laroche nicht los, weil sie sein Begehren begehrt – Kaufman 1 ist halt Lacanianer – und feststellen muss, dass der vor den Orchideen einen anderen Tick hatte, der plötzlich verschwand. Arbiträre Begehrensursache. Kaufman 2, der heitere Hollywood-Helot, ersetzt nun Lacan durch populären Pragmatismus: Orlean liebt Laroche konventionell erotisch – die gepflegte Starjournalistin hat ein Beauty&Beast-Verhältnis mit dem zahnlosen Orchideen-Beatnik. Der wiederum liebt die Orchideen, weil er aus ihnen eine Superdroge gewinnt. „Adaptation“ geht in eine neue Runde.

Spike Jonze steht dabei für das Gemeinsame der aus beider Kaufmans Skripten gewonnenen Bilder. Sind Regisseure also nur so weit Auteurs, wie banale Skripte à la Kaufman 2 vorliegen? Einwand: Kaufman 1 hatte lauter Spike-Jonze-Einfälle, z. B. die Geschichte der Welt am Anfang. Jonze hat auch eine Theorie zur Faszination von Orchideen: Weder sind sie eine beliebige Ursache noch nur aus praktischen Gründen faszinierend. Nur wer visuell komponiert, kann deren Fähigkeit der Anpassung („Adaptation“) an feuchte Landschaften selbst als Parallele zum Prinzip der Verbohrung in die Immanenz vorgegebener Geschichten verstehen, kann erkennen, wie eine „Ghost Orchid“ im Floridasumpf so steht wie die Pointe inmitten der Rede einer mit viel Schweiß erfundenen Figur.

Wenn Streep/Orlean mit Luxuswahrnehmung „auf Orchidee“ die Musik von LaMonte Young neu erfindet und summend das Intervall sucht, das den Telefonton bildet, hat man eine solche Pointe. Oder wenn Laroche, der Orchideen-Hipster, die postmodern-psychedelischen Filmverhältnisse begreift, in die er geraten ist, und Vorschläge macht, wer ihn spielen sollte. Kaufman denkt daran erst kurz vor Abgabe des Drehbuches: „Maybe Depardieu, but can he please not do the accent?“

Nicolas Cage ist die Lösung für die Kaufmans. Man verwechselt die Brüder nie und hält denselben Mann erst für gefährlich fett und dann für völlig normalgewichtig. Bei Kaufman 1 fragt man sich, ob Cage eigentlich immer schon derart hässliche Haare hatte: kleine lockige Schamhaarknäuel. Und hat jemand schon mal so einen äffischen Bewuchs des Oberkörpers gesehen? Doch dann taucht der banale Bruder auf, und dieselben Haare sind eine schöne Schattierung milder Männlichkeit. Sein schütteres Haupthaar erinnert an das von Nicolas Cage, einem bekannten Hollywood-Darsteller.

Heute, 12.30 und 19.30 Uhr, Berlinale-Palast, morgen, 15 und 18.30 Uhr, Royal Palast und 22.30, Uhr International