Konsumiert die Kunst!

Keine Angst vor dem Banalen: Leslie Fiedler durchbrach den Willen zur Hierarchie in der Literatur. Seine Idee einer Überschreitung der Grenze zwischen Hoch- und Popkultur ist noch nicht überholt

von CHRISTIANE ZSCHIRNT

Leslie Fiedler wollte den Kanon sprengen. Das ist ihm auch gelungen. Allerdings mit der Nebenwirkung, dass er inzwischen selbst kanonisch geworden ist. Der amerikanische Literaturwissenschaftler trat für den Brückenschlag zwischen „hoher“ und „niederer“ Kunst ein und machte die Popliteratur zum Gegenstand akademischer Lehre. „Cross the Border – Close the Gap“ lautete Fiedlers berühmte Formel dafür. Leslie A. Fiedler starb am 29. Januar dieses Jahres im Alter von 85 Jahren.

Als in der vergangenen Woche die Nachrufe in der amerikanischen und deutschen Presse erschienen, erinnerte man sich in den deutschen Feuilletons daran, dass Fiedler 1968 nach Freiburg gekommen war, um Schriftstellern die Ästhetik der Massenkultur nahe zu bringen. In den amerikanischen Nachrufen kam Fiedlers Engagement für die Popkultur der Sechzigerjahre allenfalls in einem Halbsatz vor.

Aber vielleicht war dies nun der beste Beweis für die Grenzauflösung zwischen Hoch- und Popkultur? Vielleicht zeigte sich in den amerikanischen Nachrufen eine Vergesslichkeit, wie sie eben nur die Popkultur hervorbringen kann.

Fiedler öffnete die Literaturwissenschaft für Phänomene aus der Massenkultur. Und er entdeckte Themen, die mittlerweile an allen Universitäten modisch geworden sind, lange bevor sich irgendjemand sonst dafür interessierte. „Vor Fiedler beschäftigte sich kaum jemand mit Ethnizität und Sexualität“, erklärt sein Biograf Mark R. Winchell, „inzwischen tut niemand mehr etwas anderes.“

Er war ein kreativer Provokateur im literaturwissenschaftlichen Betrieb. Seine Karriere als einfallsreicher Unruhestifter begann Ende der Fünfzigerjahre mit dem Essay „Come back to the Raft Ag’in, Huck Honey“. Er erklärte, Huckleberry Finn, der Held jeder amerikanischen Kindheit, habe eine homoerotische Beziehung zu dem Sklaven Jim, der ihn auf seiner Floßfahrt den Mississippi hinunter begleitet. Die Behauptung schockte, denn sie beschrieb gleich zweifach die Überschreitung jener Grenzen, die in der Eisenhower-Ära so sorgsam gewahrt wurden – der Tabus der Homosexualität und der Rassentrennung.

Fiedler machte sich kaum Freunde. Einmal musste er sich gar als „Nestbeschmutzer“ beschimpfen lassen. Der Vorwurf bezog sich auf seine große Studie über den amerikanischen Roman: „Love and Death in the American Novel“ (1960). Das Buch, das der amerikanischen Literatur einen Hang zur Infantilität bescheinigte, ist längst zu einem Klassiker der amerikanischen Literaturwissenschaft geworden. Fiedler fragte darin nach dem typisch Amerikanischen im amerikanischen Roman. Und er stellte fest, dass die großen Romane, im Gegensatz zu der Literatur Europas, im Wesentlichen auf dem Niveau der Gefühlswelten von Pubertierenden operierten. Aus diesem Grund fanden „Der letzte Mohikaner“ von James Fenimore Cooper, „Moby Dick“ von Herman Melville und Mark Twains „Huckleberry Finn“ auf nachtwandlerische Weise immer wieder ihren Weg in die Bücherregale von Kinderzimmern.

Wo waren in der Literatur Amerikas Figuren wie Emma Bovary oder Anna Karenina, fragte Fiedler. (Tatsächlich hätte er fündig werden können, hätte er zum Beispiel bei Edith Wharton nachgeschaut, aber die Entdeckung von Autorinnen war eben im Wesentlichen ein Projekt der Achtziger- und nicht der Sechzigerjahre.) Stattdessen entwickelte Fiedler eine These vom männlichen Helden im amerikanischen Roman. Sie hat ihren Reiz – nicht zuletzt, weil sie etwas holzschnittartig ist. Der typische amerikanische Held, meinte Fiedler, sei der Mann auf der Flucht: hinein in die Wildnis (Cooper), den Fluss hinunter (Twain), aufs offene Meer hinaus (Melville). In jedem Fall heraus aus der Zivilisation – und fort von allem, was sie repräsentiert: fort von der Frau, Sex, einer Ehe, Verantwortung – und dem Traum von ewiger, jungenhafter Unschuld hinterher. Sex, erklärte der an Freud geschulte Fiedler, komme in diesen Szenarien allenfalls noch in Form latenter Homosexualität vor.

Die Beobachtung zeigte Mut zur weit ausholenden These. Sie eignet sich gelegentlich durchaus als grobes Raster: Man findet den Zivilisationsflüchtling in den Fünfzigern bei Jack Kerouac wieder, der seinen semiautobiografischen Helden auf die endlosen Landstraßen der USA schickt.

Ende der Sechziger entdeckte Fiedler die Popliteratur für die literaturwissenschaftliche Debatte. Er erklärte die Ästhetik der Moderne für tot und plädierte für eine Literatur, die sich den Phänomenen der Alltagskultur und den Massenmedien öffnen sollte. 1968 reiste Fiedler nach Freiburg und hielt vor einem Publikum von Literaten und Intellektuellen aus dem Stegreif einen Vortrag über die Literatur der Zukunft, der legendär geworden ist.

Die englische Niederschrift veröffentlichte Fiedler unter dem programmatischen Titel „Cross the Border – Close the Gap“. Der Text gehört zu den Klassikern der Postmoderne-Debatte. Um zu zeigen, wie die Überschreitung der Grenze zwischen Hoch- und Popkultur aussehen würde, erschien er in einer Ausgabe des amerikanischen Playboy – statt in einer Zeitschrift für akademische Literaturkritik.

Für Fiedler hatten die Autoren der Beat-Generation die Aufhebung der Grenze zwischen „hoch“ und „nieder“ bereits vollzogen. Kerouac, Burroughs und Ginsberg bezogen den Stoff für ihre Texte aus ihrer zutiefst unbürgerlichen Lebensweise – jenseits aller Wertmaßstäbe der etablierten Literaturen. Für sie gab es, wie auch für Fiedler, keinen hierarchischen Unterschied zwischen Hochkultur und populärer Kultur mehr. Sex, Pop, Medien waren Phänomene, die nun auch in die seriöse Literaturwissenschaft Eingang finden sollten. Heutzutage sind Referate über Science Fiction, Seminare über TV-Soaps und Doktorarbeiten über Madonna längst akademischer Alltag.

Fiedlers Publikum hatte jedoch nicht Beat-Literatur gelesen, sondern vor allem Adorno und Horkheimer. Aus der „Dialektik der Aufklärung“ hatte es gelernt, den Massenmedien und der „Kulturindustrie“ mit tiefer Skepsis gegenüberzutreten. Entsprechend ratlos reagierte es, als Fiedler in einer rhetorischen Glanzleistung den Geistesaristokraten der Moderne (unter anderen T. S. Eliot, Thomas Mann und Marcel Proust) drei Gattungen aus den Niederungen der Unterhaltungs- und Konsumkultur an die Seite stellte: den Western, Science Fiction und Pornografie. Mittlerweile sind an deren Stelle die Talkshow, das Internet und der Videoclip getreten.

Fiedler meinte nicht den simplen Austausch des Elitären gegen das Triviale. Vielmehr ging es um die Vielzahl des Möglichen: um das komplexe Nebeneinander von „hoher“ und „niederer“ Kultur, von Intellektuellem und Banalem, um die Kultur der Mehrdimensionalität und nicht um eine populäre Universalkultur. Das macht seine Idee von der Überschreitung der Grenze zwischen Hoch- und Popkultur so anspruchsvoll und noch längst nicht überholt.