Kaffee in Köpenick

Die Qual der Zahl

Direkt vor mir auf dem Tisch: eine Sechs. Eine mit Kugelschreiber dahingeschnörkelte Sechs. Mehr steht nicht auf dem Zettel. Kellner machen sich keine Gedanken, was sie mit einer Ziffer wie dieser auslösen können. Nach dem ersten Milchkaffee hatte ich mir noch einen zweiten bestellt, und das macht genau 6 Euro.

In den meisten Cafés wäre einem diese Zahl, mitsamt den Erinnerungen, erspart geblieben. Man hätte 5,40 gezahlt oder 5,80 und wäre seines Weges gegangen. Aber heute Mittag, da passiert es. In mir schrillen Pavlov’sche Glocken. Sechs bedeutet sitzen bleiben. Bei dieser Zahl geht nichts mehr: Ich kann nicht aufstehen, kann nicht raus hier. Es ist, als würde man bei einem Videofilm auf die Pausetaste drücken. Ich will mich vom Stuhl lösen, aber mein Körper kriegt es einfach nicht hin. Ich bin ein DVD-Standbild, mehr nicht.

Nach einer Viertelstunde habe ich mich zumindest etwas gefangen: Das rechte Bein ist bereits wenige Zentimeter Richtung Ausgang geschoben. Als der Kellner kommt und fragt, ob es noch etwas sein darf, verneine ich und füge hinzu: „Keine Sorge – bin bald weg.“ „Nein, nein“, sagt er, ich solle mir ruhig Zeit lassen. Ob er aber schon abräumen könne? Ich nicke. Nicken funktioniert problemlos.

Fröhlich pfeifend fängt er an zu werkeln, und wenig später ist der Tisch leer. Nur den Zettel hat er dagelassen. Schön hin drapiert, angelehnt an die Blumenvase. Mein Blick streift nochmals das Papier. Ich mag es kaum glauben. Ich erkenne: eine 9. Tatsächlich. Eine mit Kugelschreiber dahingeschnörkelte, lässige Neun! Die schönste Neun meines Lebens. Eine an Kegelabenden stets umjubelte Zahl. Dann knalle ich das Geld auf den Tisch und verschwinde. JOCHEN WEEBER