: Der Lauf der Welt
Von Gertrude Stein bis Foucault: Alles wird Operntext bei Heiner Goebbels. Ohne Pomp und ohne Pathos. Seine „Landschaft mit entfernten Verwandten“ war Gast bei den Berliner Festspielen
von BJÖRN GOTTSTEIN
Viel hat Heiner Goebbels eigentlich nicht falsch gemacht. Im Gegenteil. Sein jüngstes Werk für das Musiktheater „Landschaft mit entfernten Verwandten“ verknüpft Texte und Motive von Giordano Bruno bis Michel Foucault, von Leonardo da Vinci bis Gertrude Stein zu einem so reichen wie universellen Tableau kulturgeschichtlicher Standpunkte. Nur die Musik ist dabei ein wenig in den Hintergrund geraten. Das ist schade, denn Heiner Goebbels gehört zu den interessantesten Komponisten.
Noch in den Achtzigerjahren konnte Goebbels mit der Prog-Rock-Band „Cassiber“ und dem „Sogenannten linksradikalen Blasorchester“ eine glaubwürdige Punkattitüde mit den Positionen der musikalischen Avantgarde vereinen. Während der Punk zusehends aus seiner Musik verschwand, wuchs das Interesse an neuen Technologien einerseits, an Computern und Samplern und an neuen Dramaturgien andererseits, die auch unwirtliche Stoffe stimmig auf die Bühne verfrachten helfen sollten. Heute besetzt Goebbels eine von ihm erst geschaffene Nische, deren Schlüssel vor allem in den zahlreichen Heiner-Müller-Vertonungen der Neunzigerjahre liegt.
Mit seinem jüngsten Stück, das bei den Berliner Festwochen seine deutsche Erstaufführung erlebte, hat Goebbels sich vollends in die Welt der Gebildeten und Belesenen katapultiert. Mit jedem Bild reiht er über zwei Stunden neue Sentenzen und Sujets aneinander. Am Ende steht der Betrachter vor einem diskurslastigen Knoten gordischer Qualität, der bei jedem Blick neue Verbindungslinien offenbart, den ohne gewaltsam vernichtenden Schwerthieb zu lösen aber unmöglich erscheint.
Der Krieg ist zum Beispiel eines der Themen dieser kulturgeschichtlichen „Landschaft“, an das mit Texten einer spöttelnd angewiderten Gertrude Stein erinnert wird. Dann wieder wird das Stück von allgemeineren Fragen wie denen nach Prinzipien und Gesetzen des Weltbaus beherrscht, indem abwechselnd und umständlich aus Brunos „Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen“ und Foucaults „Die Ordnung der Dinge“ zitiert wird. Der Lauf der Geschichte, die Unterschiede und Eigenarten der Epochen und Nationen ist ein dritter schwergewichtiger Erzählstrang dieses Werkes.
Bei einer derartigen Stoffklitterung befürchtet man natürlich sofort niederschmetternden Pomp und raunendes Pathos. Aber das ist gar nicht einmal der Fall, denn Goebbels verzichtet auf besser wissende Kommentare und belehrende Gesten. Stattdessen wird alles in samtig staffierten Bildern ausgeleuchtet. Die Musiker des Ensemble Modern, für die das Werk geschrieben wurde, streifen in bauschigen Barockkostümen über die Bühne, sie stieren das Publikum durch die autonomen Schlitze einer Hassmaske nieder, und sie lassen meterhohe Gummimarionetten gespenstisch über die Bühne schwirren. Zwischen dieser Bilderfluten mäandert der Schauspieler David Bennent bravourös durch vierhundert Jahre Weltliteratur.
Wenn Goebbels Pein und Pathos auch zu verhindern weiß, so muss er doch mit dem Verdacht der Belanglosigkeit dafür zahlen. Natürlich ist es zunächst einmal kurzweilig, ein Stück aus Lieblingsstellen der Literatur zusammenzusetzen. Aber eine Frage, die den Zuhörer packt und anspricht, ist damit noch lange nicht gestellt. Das gilt umso mehr, als Goebbels auf das Medium, das er eigentlich beherrscht, die Musik nämlich, als künstlerisches Agens und Movens verzichtet. Stattdessen sorgen lange Brummtöne und verhaltene akzentuierte Trommelschläge fortwährend für eine bedeutungsschwere Atmosphäre, während die wenigen musikalischen Szenen meist über den Charakter akustischen Dekors nicht hinausreichen. Und so verliert sich „Landschaft mit entfernten Verwandten“ am Schluss in einer Reihe glücklicher Regieeinfälle und dem Gefühl, dass die Musik dem Lauf der Welt nicht eigentlich etwas hinzuzufügen hat.