Stark, krank, lüstern

Am Wochenende fand in Frankfurt die Tagung „Imaginärer Osten – imaginärer Westen“ zum europäisch-türkischen Verhältnis statt

VON RUDOLF WALTHER

Die Türkei ist Partnerland der Frankfurter Buchmesse, die unter dem Motto „Türkei – faszinierend farbig“ steht. Zumindest das von Peter Ripken, Müge Sökmen und Tabil Bora konzipierte internationale Symposium erfüllte diese Erwartungen. Unter dem Titel „Imaginärer Osten – imaginärer Westen“ diskutierten 14 Intellektuelle und 5 Moderatoren über die Projektionen und Fiktionen, die das Verhältnis zwischen Europa und der Türkei seit Jahrhunderten prägen.

Der Ausgangspunkt ist paradox: Nach der griechischen Mythologie stammt das Mädchen Europa aus Kleinasien. Es wurde vom Göttervater Zeus geraubt, entführt und vergewaltigt. Dessen Gattin Hera tröstete das Mädchen über den Schmerz hinweg mit dem Hinweis, als Kompensation werde es dereinst einem ganzen Kontinent den Namen geben. Wenn es nach dem Mythos ginge, wäre Europa also ein Import aus der heutigen Türkei. Mehrere Autoren verständigten sich schnell darauf, dass nicht nur nach dem Mythos, sondern auch realgeschichtlich jeder Versuch, zwischen Orient und Okzident, Ost und West eine Grenze zu ziehen, nur ein Ausdruck „vernebelnder Definitionskämpfe“ und „synthetischer Zurechnungen“ (Tanil Bora) sei und also solcher vor allem der Ausgrenzung und Feindbestimmung diene. Von den Kreuzzügen bis zu den napoleonischen Ägyptenexpeditionen im 19. Jahrhundert wurde der Osten nicht nur zum Objekt von westlich verzerrten Definitionen, sondern auch von realen Eroberungen und Erniedrigungen. Edward Said hat in seinem Buch „Orientalismus“ (1978) dargestellt, wie diese Zuschreibungen, Zurechnungen und Eroberungen begründet wurden und wie sie den bestimmten Anderen zum Anderen schlechthin, virtuell zum Feind, machten und in eine Hierarchie von „konservativen festgefrorenen Kategorien“ (Murathan Mungan) einordneten.

Derlei Abgrenzungen sind langlebig, wie die erste Diskussionsrunde über „Die Kulturen des Ostens und des Westens“ unter Leitung der Anthropologin Lale Yalçin Heckmann deutlich machte. Die türkische Literaturwissenschaftlerin Nurdan Gürbilek, der palästinensische Journalist Khaled Hroub und der Kunstkritiker Necmi Sönmez waren sich einig, dass weder Definitionen noch die Dekonstruktion von Begriffen wie „Osten“ oder „Abendland“ die Polaritäten und Spannungen aus der Welt schaffen und dass nur die gegenseitige Anerkennung von Differenzen weiterhilft. Am Beispiel von sexuellen Metaphern demonstrierte Nurdan Gürbilek, wie sich das Bild des Mannes aus dem Osten in der westlichen Literatur historisch veränderte: Im 18. Jahrhundert war der Orientale demnach der starke Mann, der Despot und Vergewaltiger. In der westeuropäischen Literatur des 19. Jahrhunderts wurde Sexualität verweiblicht und als Lüsternheit imaginiert. Am Ende des Jahrhunderts war der orientalische Mann dagegen ein alter und impotenter Liebhaber, der vergeblich um die Gunst der jungen Europäerin buhlte. Das schlug auch auf die politische Sprache durch, die Rede vom „kranken Mann am Bosporus“ war der Anfang vom Untergang des osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg. Momentan beleben konservative Türken die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei mit der Warnung vor einer Europäisierung, die auf einen Virilität-Schwund hinauslaufe.

Die türkisch-amerikanische Philosophin Seyla Benhabib zeigte, wie verfehlt die hierzulande von Berufsislamkritikern geübte Polemik gegen das Kopftuch ist. Der Versuch der liberal-konservativen türkischen Regierung, das Kopftuchverbot an Universitäten aufzuheben, ist im türkischen Kontext kein Zeichen einer schleichenden Islamisierung, sondern ein Schritt zu echtem Pluralismus, der Menschen nicht bevormundet, sondern in ihren kulturellen und religiösen Orientierungen ernst nimmt.

Eine überzeugende Analyse der Welt nach dem 11. September 2001 lieferte der Frankfurter Politikwissenschaftler Joachim Hirsch. Nach dem Untergang der Sowjetunion wurden Muslime und Terroristen bzw. „Islamismus“ und „Terrorismus“ zu Elementen des neuen Welt- und Feindbildes, mit dem die ökonomischen und politischen Interessenlagen kaschiert werden.