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Archiv-Artikel

Abschied und Verrat

Die Achtziger oder: Wie wir wurden, was wir nie werden wollten. So könnte der Titel einer möglichen Verfilmung von Michael Wildenhains neuem Roman „Träumer des Absoluten“ lauten. Eine Begegnung in Berlin, in der Nähe der Straße, die der Autor in den Achtzigerjahren zusammen mit anderen besetzt hatte

„Mag einer sich auch noch so viel mit der Welt herumgezankt haben – zuletzt bekommt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung.“ Hegel über den Romanhelden

VON UWE RADA

Als Michael Wildenhain 1991 seinen Roman „Die kalte Haut der Stadt“ vorlegte, war ihm die Aufmerksamkeit des Publikums und der Kritik sicher. Der Autor verstehe es, freute sich die FAZ, „mit sparsamen Mitteln Atmosphäre zu erzeugen, suggestive Szenen zu entwerfen, die von Randbereichen unserer Gesellschaft berichten“.

Dabei musste man Wildenhains Epos um Hausbesetzer und die linksradikale Szene gar nicht zu Ende gelesen haben, um hineinzutauchen in den Rhythmus von Straßenschlacht und Besetzerplenum. Wer einmal drin war, wollte nicht mehr raus. Die „Kalte Haut der Stadt“ war ein Roman ohne Ende, eine literarische Übersetzung des Lebensgefühls vom Hier und Jetzt, eine Momentaufnahme der Rebellion in der ersten Person Plural, die mit dem Fall der Mauer ihr jähes Ende gefunden hat.

Es will deshalb schon etwas heißen, wenn Michael Wildenhain, inzwischen 50 Jahre alt und zweifacher Vater, seinen neuen Roman „Träumer des Absoluten“ vom Ende her erzählt. Mont Blanc heißt der Prolog genannte Showdown, eine letzte Begegnung zweier Freunde hoch droben im ewigen Schnee, auf dem Dach Europas. Wir schreiben das Jahr 2004. In Madrid haben Islamisten mehrere Vorortzüge in die Luft gesprengt, später jagen sich die Täter selbst in die Luft, als die Polizei ihre Wohnung stürmen will. Tariq, einer der beiden Helden des Romans, hat die Bilder auf einem Camcorder. Jochen trifft der Anblick von abgerissenen Gliedmaßen und offenen Schlagadern unvorbereitet. Doch er ist nicht der Handelnde. „Nimm bitte meine Sachen mit. Auch die Ski und die Schuhe“, fordert Tariq den Freund auf. „Und lass mich hier oben allein.“

Ein Roman ohne Ende und ein vom Ende erzählter Roman. Das ist nicht der einzige Unterschied zwischen den beiden Büchern von Wildenhain, zwischen denen 17 Jahre liegen. Schildert die „Kalte Haut der Stadt“ Berlin als Schauplatz eines politischen Kampfes zwischen linker Subkultur, Hausbesetzern, hilfloser Politik und skrupellosen Spekulanten, liest sich „Träumer des Absoluten“ (der Titel geht auf ein Zitat von Hans Magnus Enzensberger zurück) über weite Strecken wie ein Abschied.

Vor allem Jochen, der Ich-Erzähler, der mit Tariq und der gemeinsamen Freundin Judith die Achtzigerjahre in einem besetzten Haus verbrachte, hat den Glauben an die Unbedingtheit von Straßenschlachten und Besetzerplena verloren. Wenn er, nach seiner Rückkehr aus einem längeren Urlaub, in Berlin auf die alten „Genossen“ trifft, wechselt er die Straßenseite. Später, da ist er schon Vater, hat er mit seinen Kindern „schon mehrfach darüber gesprochen, dass die Polizei ihnen hilft, wenn sie sich verlaufen oder ihnen etwas Schlimmes passiert“. Und fragt ihn Tariq im konspirativen Unterton, ob er in seiner Wohnung etwas aufbewahren könne, antwortet Jochen entschieden: „Nein.“

Inzwischen war in Berlin nämlich die Mauer gefallen, und das ist auch im bisherigen Leben der drei Protagonisten die entscheidende Zäsur. Jochen konzentriert sich fortan auf Studium, Job und Karriere, Judith flüchtet sich in Krankheit, und Tariq, der „arabische Märchenprinz“ aus Jochens Schulzeit, sagt: „Ich bin kein Deutscher. Und kein Christ.“ Später wird er, der sich zwischenzeitlich den Revolutionären Zellen angeschlossen hat, zum Verräter, bevor sich im Showdown auf dem Mont Blanc schließlich ein neuer radialer Schnitt andeutet: der Weg in den islamistischen Terror.

„Natürlich hat die Romanfigur Tariq ein reales Vorbild“, sagt Wildenhain, als wir uns in der Nähe der Berlin-Schöneberger Mansteinstraße, die er in den Achtzigern mitbesetzt hatte, in einer Pizzeria treffen. Das Vorbild heißt Tarek Mousli, war wie der Tariq im Roman Karatelehrer, Mitglied der Revolutionären Zellen – und wurde schließlich zum Verräter. Den Prozess in Berlin-Moabit, in dem er als Kronzeuge zwei seiner früheren Genossen verraten hat, hat Wildenhain als Beobachter verfolgt. Noch immer ist ihm Mouslis Lachen am letzten Prozesstag im Gedächtnis, an dem sich der Kronzeuge in eine vom Bundeskriminalamt verabreichte neue Identität verabschiedete. Ob er sich wünsche, dass Mousli, egal, wo er sich derzeit befinde, das Buch lese? Wildenhain lacht: „Ich hätte nichts dagegen.“

„Träumer des Absoluten“ als literarische Abrechnung mit einer Symbolfigur der linksradikalen Szene Berlins zu lesen, griffe allerdings zu kurz. Wildenhains neuerlicher Berlinroman ist vielmehr ein Buch über eine Freundschaft, die am Ende der selbstgelebten Utopien daran scheitert, die eigenen Unterschiede und Lebensentwürfe auszuhalten.

Zu diesen Unterschieden gehört auch die Unbedingtheit in Tariqs Handeln. Schon als Jugendlicher will er bei einem Boxkampf seine Niederlage nicht akzeptieren, sondern steigt wieder und wieder in den Ring – bis er am Ende nicht mehr aufstehen kann. Wildenhains realistische – und zuweilen schnoddrige – Alltagssprache wird in solchen Szenen bildreich und szenisch, als ob es der Autor von Anfang an auf eine Inszenierung auf der Bühne oder eine Verfilmung angelegt hätte. Dabei ist „Träumer des Absoluten“ allerdings nicht nur als Kinofilm vorstellbar, sondern auch als Dokudrama. Möglicher Titel: „Die Achtziger. Wie wir wurden, was wir nie werden wollten.“

So radikal, wie er seinen Körper einsetzt, verfährt Tariq auch mit dem Verstand. Noch in der Schule bringt er seinen Schulleiter zur Strecke, weil der – verstrickt in die deutsche Geschichte – seinen Namen geändert hatte. Anders als in Juli Zehs Schuldrama „Spieltrieb“ entlädt sich die intellektuelle Überlegenheit des „arabischen Märchenprinzen“ aber nicht in individuellem Sadismus, sondern in politischem Radikalismus.

Kein Wunder, dass Jochen (so hieß übrigens auch der Erzähler in der „Kalten Haut der Stadt“) von Tariq fasziniert ist. Schon zu Beginn schildert Wildenhain diese Freundschaft auch als erotische Beziehung. Bei einem Streifzug durch die Stadt landen Tariq und Jochen in einem Wannenbad: „Tariq lässt das Handtuch von der Hüfte gleiten. Während ich bemerke, dass er beschnitten ist, glaube ich einen Moment, er werde mich berühren. Ich ziehe das Hemd über den Kopf, versuche, das Gleichgewicht zu halten, die Hose beiläufig von den Füßen zu streifen, und staune, wie gelassen Tariq mir zusieht.“

Eine große Rolle in dieser beginnenden Jungenfreundschaft spielt schließlich die Mathematik. Über diese seltene Leidenschaft finden Tariq und Jochen zusammen – bis sie am Ende auch die Mathematik trennt. Nach der Revolte der Achtzigerjahre und der Zäsur von 1989, als jeder wieder auf sich selbst zurückgeworfen ist, bekommt die Mathematik für Tariq immer mystischere und irrationalere Züge, während sich Jochen an der Schönheit der nackten Zahlen festhält und eine wissenschaftliche Karriere beginnt.

In der Schöneberger Pizzeria beim Roibuschtee erzählt Wildenhain, dass die Mathematik im Leben seiner Romanhelden auch eine Allegorie sei über die Macht der Aufklärung und ihr Schwinden in Zeiten abnehmenden Glaubens an Fortschritt und Gerechtigkeit. „Mathematik“, sagt er, „ist die prototypische Sphäre für die Aufklärung alter Schule.“ Und Tariqs Mystik mithin ihr Gegenteil.

Mit der Wandlung Tariqs vom linksradikalen Kämpfer zum mystischen Romantiker verschieben sich für Wildenhain auch die „Großkoordinaten militanten Widerstands“. Noch im 19. Jahrhundert, sagt er, „standen die Terroristen, egal ob es russische Anarchisten waren oder andere militante Gruppen, im Fahrwasser der Aufklärung und der Moderne. Der Islamismus dagegen kämpft im Dienste des vormodernen Absolutismus.“ Das kann man auch als eine Absage an den romantischen Irrationalismus der Kreuzberger Szene lesen – Wildenhain ist schließlich gelernter Informatiker.

Als solcher will er, und das ist die eigentliche Triebkraft des Romans, nicht nur die zunehmende politische und kulturelle Differenz beschreiben. Er will sie auch verstehen. Das gilt natürlich auch für seinen Helden Jochen. Sooft die Freundschaft zu Tariq auch auf die Probe gestellt wird, so oft erliegt Jochen ihrer suggestiven Kraft. Tariq ist ihm nicht nur Freund und Mitkämpfer. Er ist auch sein Alter Ego.

Selbst am Ende der Geschichte verlangt dieses Verstehenwollen sein Recht. Längst ist der Strafprozess gegen das RZ-Mitglied Tariq zu Ende – als Kronzeuge hat er ein „neues Gesicht“ bekommen und damit die Identität gewechselt wie der Schuldirektor, den er einst zur Strecke brachte – da erreicht Jochen ein Brief. Er soll auf den Mont Blanc. Zum Showdown.

Die im Prolog geäußerte Bitte Tariqs, dessen Sachen mitzunehmen, wird Jochen nicht erfüllen. Genauso wenig allerdings verständigt er die Bergwacht, obwohl er sich vorstellt, wie sich Tariq, „gegürtet mit einem Sprengsatz, einem Checkpoint der israelischen Armee oder einem amerikanischen Stützpunkt nähert“.

Das Ende, sagt Wildenhain in der Pizzeria über seinen „Träumer des Absoluten“, ist offen.

Schön wär’s.

Michael Wildenhain: „Träumer des Absoluten“. Klett-Cotta, Stuttgart 2008, 335 Seiten, 19,90 €