Gottes Schreibervolk auf Erden

Chaim Nolls wunderbar geschriebener, lehrreicher historischer Roman „Der Kitharaspieler“ spielt im Rom von Nero und Titus. Sein Held erlebt als Neros Dichter eine Zeit politischer Intrigen. Sie haben Folgen, die uns heute noch beschäftigen. Der Tempel in Jerusalem wird von den Römern zerstört, eine neue jüdische Sekte beginnt die Welt zu erobern

„Victi victoribus leges deterunt“, sagte Seneca laut Kirchenvater Augustinus, „die Besiegten haben den Siegern Gesetze gegeben.“ Seither richten kluge Historiker ihr Augenmerk darauf, dass Siege mit Vorsicht zu genießen sind. Dabei hatte Seneca keine Regel im Sinn, sondern Konkretes vor Augen. Mit den Besiegten war „das schändliche Volk der Juden“ gemeint, deren Lebensweise solchen Einfluss gewonnen habe, „dass sie in fast allen Ländern Eingang gefunden hat“.

Die Sieger waren die Römer selbst, deren Prokuratoren Judäa jahrzehntelang ausgeplündert hatten. Das führte im Jahr 66 zum jüdischen Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Der Jerusalemer Tempel wurde zerstört, viele Juden gekreuzigt und als Sklaven verkauft. Ihre Zerstreuung begann hier.

Chaim Noll wurde 1954 in der DDR geboren. Der Sohn einer kommunistischen Familie mit jüdischen Wurzeln verweigerte den Wehrdienst, wurde deswegen drangsaliert, konnte aber in die Bundesrepublik ausreisen. Seit 1995 lebt er in Israel. Sein 815 Seiten langer, aber an keiner Stelle langweiliger Roman „Der Kitharaspieler“ ist als Meditation über Senecas Bemerkung zu lesen: Sorgte erst die Zerstörung des Tempels für die Bewahrung jüdischer Tradition?

Der Held des Romans ist ein namenloser, nur als „Ich“ gegenwärtiger Erzähler. Er ist der Sohn einer jüdischen Sklavin, einige Jahre vor der Zerstörung Jerusalems in Rom geboren, und er macht Karriere. Er wird Kaiser Neros wichtigster Berater in Fragen der Dichtkunst und schreibt das Poem „Der Kitharaspieler“, das von Nero handelt, vertont und aufgeführt wird. Der göttliche Bohemien ist der Prototyp des Populisten. „Ja, ich bin die Verkörperung dessen, wovon das Volk träumt“, verrät er seinem Dichter und sorgt durch Säuberungswellen am Hof für Angst und Schrecken.

Der junge Ich-Erzähler lernt, sich hier zu behaupten, nähert sich dabei immer mehr den jüdischen Traditionen an und verliebt sich schließlich in ein jüdisches Mädchen. Währenddessen wird die Auseinandersetzung der jüdischen Gemeinden mit den Anhängern des Chrestus zu einem drängenden Problem. Die Anhänger der neuen jüdischen Sekte, dessen wichtigster Propagandist Paulus in Rom unter Hausarrest steht, sind dem Staatsapparat verdächtig. Der Erzähler wundert sich über jenen Sha’ul aus Tarsus und „die todesverächtliche Offenheit“, mit der er unter den Augen der kaiserlichen Sicherheitsbehörde agiert.

Nolls Roman, der voller lateinischer Wendungen und hebräischer Sprichwörter ist, verbindet historische Ereignisse mit Spekulationen über deren politische Hintergründe. Er zeichnet die komplexen Intrigen am Hof des Kaisers Neros plausibel und mit psychologischer Präzision nach – und ist also das strahlende Gegenmodell zum gemeinen Historienschinken. Noll hat nicht nur einen immensen Fundus an historischen Fakten verarbeitet. Sein Stil ist schön und klar wie die römischen Architekturen, die er beschreibt. Umso ärgerlicher ist, wie schlampig dieser Text korrigiert wurde. Wer hier allerdings ein spezifisches Problem des kleinen Verbrecher-Verlags vermutet, unterschätzt die Tippfehlerquote in den Texten auch großer Verlage. Dabei ist „Der Kitharaspieler“ eine Hymne auf das Schreiben: „Wir sind das Volk des Erinnerns und Niederschreibens, Gottes Schreibervolk auf dieser vergesslichen Erde“, sinniert der Erzähler.

„Der Kitharaspieler“ ist auch in Bezug auf dieses Thema einer spezifischen jüdischen Identität und Aufgabe ein Roman im klassischen Sinn. Er behandelt die inneren Widersprüche eines fiktiven wie beispielhaften Einzelnen, der nicht anders kann, als sich auf die anderen zu beziehen, wodurch er sich erst recht als Abgesonderten erfahren muss. Noll sieht diesen Zwiespalt aber keineswegs als Problem, sondern als heitere Möglichkeit: „Immer leben wir zwei Leben zugleich, eins in Gedanken, ein anderes für die Welt, von jedem dieser Leben können wir uns abwenden, wenn wir wollen, und dem anderen zuneigen.“ Am Ende zählt in dieser lebensfreundlichen Geschichte vor allem eins: „Wir können von Glück reden: Die Geschichte ist erzählt, der Schreiber noch am Leben.“ ULRICH GUTMAIR

Chaim Noll: „Der Kitharaspieler“. Verbrecher-Verlag, Berlin 2008. 815 Seiten, 34 €