: Ein Veto spaltet die Nato
Belgien und Frankreich blockieren mit deutscher Unterstützung Militärhilfe an Türkei. Nato-Staaten fürchten Vertrauensentzug der USA für das Bündnis
von ANDREAS ZUMACH
Seit die Nato ihren ursprünglichen Gegner Warschauer Pakt verloren hat und der Kalte Krieg vorbei ist, erlebt sie immer neue Premieren. 1999 führte die Allianz gegen Serbien den ersten Krieg ihrer Geschichte. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 riefen die 19 Mitgliedsstaaten erstmals unter Berufung auf Artikel 5 des Nato-Gründungsvertrages von 1949 den Bündnisfall aus. Während diese Premieren im Konsens erfolgten, ist die gestrige Premiere Ergebnis eines Dissenses.
Mit der Türkei beantragte erstmals ein Mitglied der Allianz Beratungen des Nato-Rates, weil es sich bedroht fühlt. Ankara stützte seinen Antrag auf Artikel 4 des Nato-Gründungsvertrages. Dieser sieht Konsultationen der Bündnispartner vor, wenn nach Auffassung eines Mitgliedes „die Unversehrtheit des Gebiets, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit einer der Parteien bedroht sind“. Die türkische Regierung reagierte mit ihrem Antrag auf das Veto, mit dem am Morgen Frankreich und Belgien eine militärische Planungsentscheidung des Nato-Rates vom letzten Donnerstag blockiert hatten.
Der Rat hätte gestern grünes Licht geben sollen für die Stationierung von „Patriot“-Luftabwehrraketen, von Awacs-Aufklärungsflugzeugen sowie von Sondereinheiten für den Einsatz gegen biologische und chemische Waffen in der Türkei. Diese Maßnahmen „zum Schutz der Türkei gegen irakische Angriffe“ im Falle eines von den USA geführten Krieges gegen Bagdad hatte die Nato-Führungsmacht USA Mitte Januar formell beantragt. Der Planungsentscheid vom letzten Donnerstag ließ ausdrücklich die Möglichkeit eines Vetos bis spätestens Montagmorgen 10 Uhr vor. Die Nato dürfe nicht bereits über den Beginn militärischer Planungen entscheiden, solange nicht alle Mittel zur friedlichen Beilegung des Irakkonflikts ausgeschöpft seien, begründeten die Regierungen in Paris und Brüssel ihr Veto.
Unklar blieb gestern zunächst, ob auch Deutschland innerhalb dieser Frist ein formelles Veto eingelegt hat, oder ob die Bundesregierung die Vetos Frankreichs und Belgiens lediglich politisch unterstützt. Hierzu gab es von der Bundesregierung und der deutschen Delegation in der Brüsseler Nato-Zentrale widersprüchliche Auskünfte. Der Eindruck der Widersprüchlichkeit wurde noch verstärkt durch die Tatsache, dass die Bundesregierung auf dem Umweg über die Niederlande „Patriot“-Raketen in die Türkei schickt. Dies sei eine „rein bilaterale Maßnahme“, die „außerhalb der Nato-Strukturen“ erfolge, heißt es im Berliner Verteidigungsministerium.
Dänemark und Norwegen befürchten, dass durch den Widerspruch gegen die von den USA beantragten Maßnahmen „das Vertrauen der Amerikaner in die Allianz enorm geschwächt werden“ könnte. Washingtons Nato-Botschafter Nicholas Burns kritisierte das Veto als „äußert unglückliche Entscheidung, die Nato vom Beistand bei den legitimen Verteidigungsbedürfnissen der Türkei abzuhalten“. Wegen dieses Verhaltens stehe „die Nato nun vor einer Krise der Glaubwürdigkeit“.
Was die „legitimen Verteidigungsbedürfnisse der Türkei“ sind und wie stark tatsächlich ihre Bedrohung im Falle eines Irakkriegs wäre, ist allerdings eine offene Frage. Sollten die USA einen Krieg gegen Irak ohne UNO-Mandat führen, hätte Irak das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UNO-Charta. Militärische Maßnahmen Bagdads gegen kriegsbeteiligte US-Kampfflugzeuge auf türkischen Basen oder im türkischen Luftraum sowie gegen US-Truppen wären unter diesen Umständen völkerrechtlich legitim. Die Nato würde in einem solchen Szenario mit Schutzmaßnahmen einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg ermöglichen und unterstützen beziehungsweise, zumindest was die Awacs-Systeme mit ihrer Feuerleitfunktion für Kampfflugzeuge betrifft, sich sogar aktiv daran beteiligen.
Militärexperten haben allerdings größte Zweifel, dass Irak überhaupt in der Lage ist, türkisches Territorium mit eigenen Waffen zu erreichen. So ist unsicher, ob die irakischen Streitkräfte überhaupt noch über einsatzfähige Kampfjets verfügen. Ähnliches gilt für die Scud-Raketen, mit denen türkisches Territorium aus der zurzeit noch unter Kontrolle Bagdads stehenden irakischen Zentralzone theoretisch erreicht werden könnte. Nach Einschätzung der UNO-Waffeninspekteure verfügt Irak heute noch über maximal 20 Scud-Raketen (von ehemals über 1.000).