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Archiv-Artikel

Am Ziel mit 29 Jahren

Ihr Yogalehrer befreite sich aus Ceaușescus Gefängnis. Durch die Macht der Gedanken

von KIRSTEN KÜPPERS

Das Ereignis, das die Welt für die Berlinerin Andrea Kammer zu einer anderen machte, begann im Keller eines Hotels in Indien. Es war ein schwüler Abend im Mai, und Andrea Kammer ist auf einer Matte gesessen im Untergeschoss dieses modernen Hotels, das irgendwo am Rande einer Kleinstadt nördlich der Hauptstadt Delhi lag. Um Andrea Kammer herum knieten viele andere Touristen auf Matten und Decken: Australier, Amerikaner, Dänen, Holländer. Alle guckten sie nach vorn, die feuchte Hitze des Tages hing schwer im Raum. Vorne an der Wand stand ein großer, breiter Mann, er sprach akzentfreies Englisch. Der Mann kam aus Rumänien, und er hielt einen Vortrag. Fast drei Jahre ist das jetzt her.

Heute ist Andrea Kammer 29 Jahre alt, und sie kann nicht mehr genau beschreiben, was der Mann aus Rumänien gesagt hat. Sie weiß nur, dass sie damals eher zufällig in den Vortrag geraten ist, dass die Sätze des Mannes etwas seltsam Großartiges angerichtet haben in ihr, dass sie ihren Flug umgebucht hat und einen Monat länger geblieben ist in Indien, dass sie dann einen Yogakurs belegt hat, beim Yogi Narcis, wie sie den Mann nennt. Dass er schuld ist, dass sie ausgestiegen ist aus ihrem alten Leben.

Mit dem Rumänen in dem Hotel in Indien hat es seinen Anfang genommen, damit, dass die resolute, dunkelhaarige Andrea Kammer, die früher unbedingt Fotografin werden wollte und später professionelle Choreografin und die heute mit ihren engen Jeans, ihrem gestreiften Pullover und dem rot geschminkten Mund eigentlich immer noch nicht so aussieht, als sei sie dem Esoterischen besonders zugeneigt, dass also diese Andrea Kammer plötzlich all ihre schönen Ausbildungszeugnisse und Lebensplanungen über den Haufen geworfen hat und jetzt selbst als Yogini, also als Yoga Praktizierende, in Berlin in einem Ashram lebt.

Um zu verstehen, was das nun wieder genau bedeutet, muss Andrea Kammer tief Luft holen und buchstabieren und erklären, so wie sie überhaupt ständig alles, was sie jetzt bewegt, Außenstehenden bis in jede Einzelheit erklären muss. Weil es ja quasi eine eigene Sprache gibt beim „Tantrischen Yoga“, der Sache, der sich Andrea Kammer nun schon seit fast drei Jahren verschrieben hat. Eine Angelegenheit, die gespickt ist mit Begriffen wie „Assana“ und „Chakra“ und „Kriya“. Wörter, die einer Eingeweihten wie Andrea Kammer natürlich längst in Fleisch und Blut übergegangen sind, die für Unkundige aber fremdes Kauderwelsch sind. Andrea Kammer kniet auf einem kleinen Kissen am Boden ihres schmalen Zimmers. Im CD-Player läuft eine CD mit Mittelaltermusik. Sie zündet ein Kerze an und lächelt das überlegene Lächeln derjenigen, die wissen, dass sie ihrem Gegenüber den Segen der Erleuchtung voraushaben. Sie sagt: „Ein Ashram ist ein Zentrum zur spirituellen Entwicklung.“

Vielleicht kann man sich ein Ashram wie ein Kloster vorstellen, nur ohne sexuelle Enthaltsamkeit, denn Sex gilt den tantrischen Yogis als Energiequelle. Wahrscheinlich ist ein Ashram mehr wie eine WG, in der nun einmal ein wenig seltsame Regeln herrschen. Wo die Bewohner ihren gemeinsamen Lebensunterhalt mit Yoga-Kursen bestreiten, wo sie stundenlang auf Matten sitzen und meditieren, wo die Tage angefüllt sind mit Ritualen und Zeichen, wo Kleinigkeiten groß und bedeutsam werden. Und wo über allem ein Ziel steht – es auszusprechen, dafür ist eigentlich jeder Raum zu klein: „Die Schule des Tantrischen Yoga strebt die Glückseligkeit im Hier und Jetzt an“, sagt Andrea Kammer. Was für ein Satz! Er ist ein Versprechen.

Für diesen Satz wohnen mitten im Zentrum der Großstadt Berlin drei junge Frauen und ein Mann in einer Wohnung. Sie befolgen ayurvedische Kochrezepte, trinken keinen Schluck Alkohol, keinen Kaffee, rauchen keine Zigaretten. Es ist ganz normal, dass jeder von ihnen sich morgens mit Hilfe einer Art Schnabeltasse die Nase ausspült, die Augen wäscht, das Zahnfleisch mit Salz massiert und die Zunge mit einem Schaber abkratzt, „eben die Energiekanäle reinigt“, wie Andrea Kammer es nennt. Denn die Energie muss in die oberen Chakren, also die oberen Energiezentren im Körper gelenkt werden, sie darf nicht nach unten sacken, das ist eines der wichtigsten Gebote im Tantrischen Yoga.

Wenn Andrea Kammer jetzt auf Strümpfen durch die Wohnung läuft und ihr Leben vorführt, zeigt sie einen weiten hellen Yogaraum, eine Küche, ein winziges Bad, die Zimmer der Mitbewohner. Es sieht eigentlich alles ganz normal aus, nur an den Wänden hängen fast überall dieselben Bilder. Verschiedene Fotos von demselben Mann. Ein älterer Herr mit etwas unansehnlichem Bart. Sogar am Kühlschrank hängt ein Bild von ihm.

Man soll nicht schreiben, dass das ihr Guru ist, sagt Andrea Kammer. Weil das so nach Sekte klingt. Vielmehr sei der Mann auf den Bildern ihr „spiritueller Yogalehrer“. Er heißt Gregorian Bivolarû. In Rumänien führt er eine Bewegung mit 40.000 Yogis an, seit 20 Jahren schon, sagt Andrea Kammer. Man kann sich das kaum vorstellen! 40.000 Yogis! In Rumänien! Aber es stimmt, sagt sie. Und weil die Bewegung so kraftvoll ist, gebe es auch immer wieder Ärger mit der Regierung. Der Diktator Ceaușescu habe Bivolarû zum Beispiel ins Gefängnis sperren lassen.

Und was jetzt kommt, klingt für gewöhnliche Menschen vielleicht etwas seltsam, sagt Andrea Kammer, „aber es ist wahr“: Durch die Macht seiner Gedanken habe sich Bivolarû befreit aus dem Gefängnis. Er ist einfach frei gewesen plötzlich.

Andrea Kammer lächelt. Und das klingt ja wirklich ziemlich komisch jetzt, wie aus einem Traum ins Leben geweht, dass einer einfach so rauskommt aus einer von Ceaușescus berüchtigten Zuchtanstalten, einfach so, ohne Hilfsmittel, ohne Gerät.

Andrea Kammer kniet wieder auf ihrem Kissen. Sie hält sich aufrecht, guckt ihr Gegenüber freundlich und gerade heraus an. Vielleicht weil sie sich inzwischen mit dem Gedanken vertraut gemacht hat, dass es Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die vom Einzelnen nun einmal mehr Glauben und Zuversicht abverlangen, als der gewöhnliche Mensch in Deutschland heutzutage zu geben bereit ist.

Man kann sich fragen: Warum macht Andrea Kammer so was? Warum hängt sie solche Fotos auf? Warum rennt sie aus ihrem alten Leben heraus? Weg von den Freunden, den Ideen, den Tagen, wie sie sie kennt. So schlecht kann es doch nicht gewesen sein für eine, die gerne tanzt und fotografiert.

Und es ist ja schon so, dass die alten Bekannten ihre neue Lebensform schlecht nachvollziehen können. Dass die Gespräche darüber seltener werden nach zu viel gescheiterter Kommunikation. Die Sorgen der Eltern kommen als Nachrichten auf dem Anrufbeantworter an. Die Welt draußen steckt voller Giftstoffe jetzt, voller negativer Energien. Andrea Kammer geht daher kaum noch auf Partys, sie vermeidet die U-Bahn. Sie ist völlig raus aus dem alten Leben, sie hat sich entfernt.

Ein Ashram ist ein wenig wie ein Kloster, nur ohne sexuelle Enthaltsamkeit

Jetzt sitzt sie da mit einem maßlosen Satz im Kopf auf einem kleinen Kissen in einem schmalen Zimmer. Warum? „Weil es das ist, wonach ich immer gesucht habe“, sagt Andrea Kammer. „Das Yoga vereint alles, was ich im Leben mag.“ Mit den Fingern zählt sie auf: „Energie. Die Kontrolle über diese Energie. Das Leben in vollen Zügen genießen. Und den Glauben an etwas Höheres.“ Sie sei schon immer ein religiöser Mensch gewesen.

Und irgendwann fahren junge Frauen dann alleine nach Indien. Es mag an der Welt der Sonnenstudios, der Fernsehpfarrer und Fitness-Center liegen. Es mag an Langeweile liegen, an Neugier oder an irgendeinem unbestimmtem Verdruss, dass ein Mensch sich schließlich auf den Weg in ein fernes Land macht. Dass er sich im Keller eines Hotels auf den Boden setzt, damit endlich etwas passiert.

Eine Sache, die ihn aus der Gewöhnlichkeit der Gedanken hebt. Etwas Großes und Warmes. Etwas, das wundersame Kräfte entwickeln lässt und womit sich bisweilen sogar einer aus dem Gefängnis befreit. Vielleicht ist es Fügung, vielleicht auch nicht. Bei Andrea Kammer scheint der Glaube an diese Kraft zumindest zu funktionieren. „Meine Lebensqualität ist um hundert Prozent besser geworden“, meint sie. „Ich bin die meiste Zeit glücklich.“ Sie wirft den Satz ins Zimmer hinein. Es klingt nicht wie ein Vorwurf, eher wie eine Beschreibung.

Das Glück hängt auch mit dem neuen Freund zusammen, den sie jetzt hat. Er lebt in Kopenhagen. In einem Yogi-Camp in Dänemark, wo sie zu tausenden hinfahren jedes Jahr aus aller Welt, um gemeinsam zu meditieren, da hat Andrea Kammer ihn kennen gelernt. Seither legt sie sich jeden Abend wie verabredet um 23 Uhr auf ihr Hochbett. „Dann tauschen wir Energie über unsere Herzchakren aus“, sagt sie. Ansonsten kommunizieren die beiden viel über SMS.

Ja, man kann sagen, es läuft alles ganz gut bei Andrea Kammer zurzeit. Die Kurse im Ashram finden Anklang. Über Annoncen in Esoterik-Zeitschriften kommen immer mehr Interessenten. Auch auf der Berliner Esoterik-Messe hatten die Yogis einen Stand. Im Frühjahr wollen sie ein zweites Ashram in der Stadt eröffnen. Andrea Kammer wird die Chefin werden.