No Törtchen aus Berlin

Das Nestlé-Werk in Tempelhof macht zum Jahresende dicht, Berlin bekommt 500 Arbeitslose mehr. Für Kritiker ein Fall von „Missmanagement“. Wirtschaftssenator Wolf lässt nun Investoren suchen

von UWE RADA
und CHRISTOPH TITZ

Schokolade setzt offenbar nicht nur Glückshormone frei, sondern auch die nötige Kreativität für Werbetexter. Für die einen ist Milka dann die „zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt“, während die Choco Crossies von Nestlé ganz auf den Faktor Neid setzen. „Da hört die Freundschaft auf“, heißt der Crossies-Slogan ganz salopp, doch die meisten der 500 Beschäftigten im Nestlé-Werk in Tempelhof mögen das gestern nur noch zynisch gefunden haben.

Seit gestern Mittag steht fest, was schon seit November vorigen Jahres im Gespräch war: Das Nestlé-Werk in der Teilestraße 11–16 wird zum Ende des Jahres geschlossen. So hat es der Aufsichtsrat der Nestlé Deutschland AG gestern – gegen die Stimmen der Arbeitnehmervertreter – beschlossen. 150 Beschäftigte, so das Angebot der Konzernleitung, könnten einen Job in Hamburg finden, weitere 30 bis 50 zunächst in einer Qualifizierungsgesellschaft unterkommen.

„Die Zahl der Stellen, die in Hamburg angeboten werden, ist irrelevant, weil viele gar nicht gehen können“, sagte dazu gestern der stellvertetende Betriebsratvorsitzende Hans Wagner. Rainer Renzmann, seit sieben Jahren Anlagenfahrer bei Nestle, bestätigt das. „Mit vier Kindern geht das nicht.“ Dass man gerade Berlin schließt und nicht Hamburg, ist für Renzmann eine „klare Standortentscheidung für den Westen.“ Die Schuldigen sieht er in der Marketingabteilung des Konzerns: „Die Sache wurde in Frankfurt versaut.“

Das sieht auch die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten (NGG) so. Die Schließung sei von der Konzernleitung damit begündet worden, dass die jüngsten Investitionen in den Betrieb sich nicht amortisiert hätten, sagte NGG-Gewerkschaftssekretät Roland Franke. Diesen Investitionen seien aber „Fehler im Management“ vorangegangen.

Schuld sind allerdings nicht die Choco Crossies, bei denen die Freundschaft angeblich aufhört, sondern die Yes-Törtchen. Auf deren Produktion hat die Konzernleitung die Tempelhofer Fabrik in der Vergangenheit nahezu ausschließlich konzentriert. Nachdem die Törtchen aber bei Aldi aus den Regalen genommen wurden, brach 1998 der Absatz zusammen. Hinzu kam noch ein Preisverfall im Marktsegment der so genannten Kuchenriegel. Offenbar haben nicht nur die Werbetexter von Nestlé zu wenig Schokolade gegessen, sondern auch die Manager. Die Folge: Statt Yes-Törtchen gibt es nun no Törtchen aus Berlin.

Auch die Grünen-Wirtschaftsexpertin Lisa Paus, machte gestern Missmanagement für die Schließung veranwortlich. „Es kann doch nicht sein, dass in einer modernen Fabrik nicht noch Platz für die Herstellung anderer Produkte ist“, kritisierte sie.

Ähnlich, allerdings etwas diplomatischer, drückte sich der Sprecher von Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS), Christoph Lang, aus: „Wenn man früher in neue Produkte und Produktionstechniken investiert hätte, hätte man das Werk nicht schließen müssen.“

Haben wir doch auch, lautete gestern die Reaktion aus der Frankfurter Konzernzentrale. „Doch das, was uns mit der Auslistung bei Aldi weggebrochen ist, konnte durch neue Produkte wie die ‚Wonderballs‘ für den US-Markt oder ‚Petfour‘ nicht ausgeglichen werden“, sagte Sprecherin Barbara Nickerson.

Auf Drängen von Wirtschaftssenator Wolf sucht Nestlé nun nach einem Investor, der in der Tempelhofer Fabrik weiter produzieren und auch einen Teil der Belegschaft übernehmen möchte. Zum Stand dieser Suche wollte sich Nickerson gestern aber nicht äußern.

Mit dem Aus für die Nestlé-Fabrik neigt sich auch die lange Geschichte der Schokoladenproduktion in Berlin ihrem Ende zu. Noch in den Zwanzigerjahren war Tempelhof die größte Schokoladenfabrik der Welt, und auch zur Wende waren in der Teilestraße noch 3.000 Menschen beschäftigt. Mit dem Ende der Berlinförderung ging es den verlängerten Werkbänken an den Kragen. Zuletzt musste Nestlé die Marke „Sarotti“ 1997 an Stollwerck verkaufen. Doch auch der Stollwerck-Standort in Mariendorf steht jetzt auf dem Prüfstand.

Berlin muss sich nun nicht nur damit abfinden, nicht mehr Hauptstadt der Schokoladenproduktion zu sein. Auch für den rot-roten Senat könnte es eng werden. Auf dem Höhepunkt der Koalitionsverhandlungen ernährten sich die Unterhändler beider Parteien nur noch von Gummibärchen – und Schokolade.