: „Es gibt mehr Risikoschüler als gedacht“
Jeder fünfte Jugendliche kann zu wenig lesen und rechnen, mahnt Bildungsforscher Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut. Er hofft, dass Bund und Länder sich darauf einigen können, Geld zugunsten der schwächsten Schüler umzuverteilen
JÜRGEN BAUMERT, 66, ist Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Er koordinierte die erste Pisa-Studie 2001 in Deutschland.
INTERVIEW ANNA LEHMANN
taz: Herr Baumert, sind Sie optimistisch, dass angesichts der Finanzkrise größere Summen fürs Bildungssystem abfallen?
Jürgen Baumert: Das hängt davon ab, ob es Bund und Länder schaffen, gemeinsam die richtigen Schwerpunkte zu setzen.
Am dringendsten ist meiner Meinung nach die frühe und andauernde Förderung der Sorgenkinder, jener Schüler, die bis zum 15. Lebensjahr nicht die für eine zukunftsfähige Berufsausbildung notwendigen Basisqualifikationen im Lesen und in Mathematik erreichen.
Die „Risikoschüler“?
Ja, und sie werden mit Recht Risikoschüler genannt, weil sie in ihrem Lebensweg gefährdet sind und dies soziale Sprengkraft für die Zukunft enthält.
Wie groß ist diese Gruppe?
Sie schwankt zwischen 20 und 23 Prozent eines Jahrgangs. Das heißt, jeder vierte bis fünfte Jugendliche, der die Schule verlässt, ist ungenügend auf den beruflichen Umgang mit Texten, Grafiken und mathematischen Sachverhalten vorbereitet.
Das wären über 200.000 Jugendliche – deutlich mehr als die knapp 80.000 Schulabbrecher, die Politiker als Risikogruppe benennen.
Wenn wir nur die Schulabbrecher sehen, unterschätzen wir die Zahl der Risikoschüler.
Wo lernen diese Schüler?
Man findet sie schon in der Grundschule. Auch dort gibt es bereits große Unterschiede, die während der Schulzeit jedoch nur wenig zunehmen. Später geht dann die Schere zwischen den Leistungen von Haupt-, Realschülern und Gymnasiasten vor allem in Mathematik und Englisch auf.
Wodurch entstehen die Unterschiede?
Den größten Einfluss hat die Familie. Wie viel Zeit sich Eltern für ihre Kinder nehmen, hat Einfluss auf deren spätere Leistungen. Daneben ist der Einfluss der Schule begrenzt. Die Grundschule hält Kinder unterschiedlicher Sozialschichten sogar beieinander: die Leistungsentwicklungen verlaufen weitgehend parallel. Vielleicht darf man von der Schule realistischerweise nicht mehr verlangen, als dass sie die herkunftsbedingten Unterschiede nicht noch vergrößert.
Genau das passiert, wenn sich Hauptschüler deutlich weniger steigern als Gymnasiasten. Warum?
Drei Dinge können dafür verantwortlich sein: unterschiedliche individuelle Lernraten, die unterschiedliche Klassenzusammensetzung und eine unterschiedliche Unterrichtsqualität. Das Wichtigste sind die Qualität des Unterrichts und die Qualifikation der Lehrkräfte. Erst dann kommt die Klassenkomposition.
Also Gymnasiallehrer in die Hauptschule?
Am kommenden Mittwoch treffen sich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder zum Bildungsgipfel in Dresden. Auf dem Gipfel wollen sie Leitlinien beschließen, damit es in Zukunft mehr Fachkräfte und weniger Schulabbrecher gibt. Qua Grundgesetz ist eigentlich jedes Bundesland in eigener Regie für Schul- und Hochschulpolitik zuständig. Derzeit streiten die beiden Seiten noch, ob der Bund für bessere Bildung nur Geld geben soll oder bei dem Thema auch mitreden darf. Die Kultusminister der Länder haben sich auf ihrer Sitzung am Freitag darauf geeinigt, die Lehrerausbildung zu vereinheitlichen. Sie appellierten an Bund und Länder, die Bildungsausgaben zu erhöhen. TAZ, EPD
Das wäre ein interessantes Experiment.
Aber löst es die Probleme?
Zumindest verschwindet die Risikogruppe nicht, indem man einfach die Hauptschule abschafft.
Sondern?
Die Lehrerausbildung muss so verbessert werden, dass Lehrer im Unterricht stärker individuell differenzieren und gleichzeitig anspruchsvoll unterrichten. Man muss die Differenzierung des Schulsystems überdenken, wenn sich in Schulen belastete Milieus bilden. Hamburg verlängert jetzt die Grundschulzeit, Baden-Württemberg fördert die Zusammenarbeit von Haupt- und Realschulen. Es gibt unterschiedliche Lösungen und nicht das eine Patentrezept. Wichtig ist, dass das Problem der Risikoschüler von den Ländern systematisch angegangen wird.
Sind die Vorschläge, die auf dem Bildungsgipfel diskutiert werden, richtig – etwa Sprachförderung vor Schulbeginn?
Frühe Förderung ist enorm wichtig. Entscheidend ist aber auch, Kinder systematisch weiter zu fördern. Die Problemzonen liegen nicht in den Gymnasien. Ich hoffe, dass Geld so umgeschichtet wird, dass die Schwächsten am deutlichsten profitieren. Ich wünsche mir ein länderübergreifendes Programm zur Förderung dieser Gruppe.