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Archiv-Artikel

Häftling 314/1

Jetzt bin auch ich ein Moorsoldat: Das nach einer Idee von Lea Rosh entstandene Dokumentartheaterstück „Staats-Sicherheiten“ stellt im Hans Otto Theater Potsdam kühl und lakonisch Berichte aus der Haft vor

VON ESTHER SLEVOGT

Die Verhaftung fand auf offener Straße statt. Oder früh morgens, als man noch im Bett lag. Man wurde beim Versuch festgenommen, illegal die Grenze zu überqueren. Oder musste sich „zur Klärung eines Sachverhalts“ zur Polizei zu begeben, von wo es dann für viele Jahre kein Zurück ins Leben mehr gab.

Am Anfang steht nur ein einsamer Maultrommelspieler auf der leeren Bühne im Hans Otto Theater Potsdam und spielt sein unheimliches Instrument. Immer wieder kommt dann ein Mensch hinzu, spricht und bleibt. Schließlich sind es fünfzehn Menschen. Sie werden in den nächsten zwei Stunden erzählen, wie sie in die Fänge der Staatssicherheit gerieten: Prominente, wie die ehemalige Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld, die im Januar 1988 in Ostberlin auf der legendären Liebknecht-Luxemburg-Demo verhaftet worden war. Oder der Liedermacher Stephan Krawczyk, der zu diesem Abend die Musik beisteuert, die bedrohliche Maultrommeluntermalung am Anfang zum Beispiel.

Mit seiner damaligen Frau Freya Klier gehörte er in den Achtzigerjahren zu den bekanntesten DDR-Dissidenten. Da ist Edda Schönherz, Moderatorin aus der Frühzeit des DDR-Fernsehens, die ihren Versuch, mit ihrer Familie die DDR zu verlassen, mit drei Jahren im berüchtigtsten Frauenzuchthaus der DDR bezahlen musste. Der Älteste von allen, Hans-Eberhard Zahn, ist achtzig Jahre alt. Der jüngste, Mario Röllig, ist Jahrgang 1967 und geriet ins Visier der Stasi, weil er einen westdeutschen Politiker liebte, aber nicht bespitzeln wollte.

Das biografische Material ist für „Staats-Sicherheiten“ in Kapitel strukturiert: Festnahme, Transport, Untersuchungshaft, Prozess, Freilassung. Projizierte Fotos zeigen die Erzähler etwa in der Zeit, als ihr Leidensweg begann. Hartmut Richter sieht man auf dem Foto sogar neben dem geöffneten Kofferraum stehen, in dem seine Schwester und ihr Verlobter liegen, die er aus der DDR herausschmuggeln wollte – vermutlich wurde es bei seiner Festnahme gemacht.

Es sind beeindruckende Menschen und beeindruckende Geschichten, die mit einer großen, manchmal fast unerträglichen Leichtigkeit erzählt werden. Gilbert Furlan zum Beispiel, den es reizt, hier nun einmal in die Rolle seines Vernehmers zu schlüpfen, sich also selbst aus dessen Sicht als Opfer schildert, um dann am Ende doch die Rolle als Häftling 314/1 für sich anzunehmen. Oder Hans-Eberhard Zahn, der mit ironischer Lakonie den Grund seiner Verurteilung zu sieben Jahren Haft referiert: „Gefährdung des Friedens des deutschen Volkes. Und der Welt.“ Natürlich ein Lacher, obwohl es eigentlich zum Weinen ist. Und Harry Santos, der in einer kurzen Erzählung aus seiner Haft das ganze Drama der fehlgeleiteten DDR, die ein besseres Deutschland sein wollte, auf den Punkt bringt: als ihm angesichts seiner eigenen Behandlung als DDR-Häftling Wolfgang Langhoffs KZ-Bericht „Die Moorsoldaten“ einfällt, antifaschistische Identifikations- und Grundlagenliteratur, und er plötzlich denkt: „Jetzt bin ich auch ein Moorsoldat.“

Regisseur Clemens Bechtel, 1964 in Heidelberg geboren und Absolvent des Gießener Instituts für Angewandte Theaterwissenschaften, hat das biografische Material mit viel Gespür in knappe Szenen gefasst. Da sitzen die Spieler ihren imaginären Vernehmern gegenüber, spielen ihr Eingepferchtsein in den Gefangenentransporter oder die bedrückende Zellensituation vor. Erzählen, wie es nach ihrer Entlassung weiterging: Heidelore Rutz, die in einem Westkaufhaus die Bettwäsche angeboten sieht, die sie in der Haft herstellen musste. Oder Erhard Neubert, der bei der Schilderung einer Besichtigung seiner ehemaligen Haftanstalt mit den Tränen kämpft. Insgesamt ein starkes Stück Dokumentartheater: kühl, scharf, nie sentimental oder demagogisch.

Der Abend beruht auf einer Idee der streitbaren Journalistin Lea Rosh, die dann leider auch zuerst auf der Bühne stand. Nicht als Darstellerin, sondern als Selbstdarstellerin, was den Abend ungut beginnen ließ. Denn hier war nun wahrlich keine Moderatorin nötig, die dem Publikum einleitende Erklärungen „zum Ablauf des Abends“ geben musste. Eher entwertete sie das Projekt, in dem sie es derartig demonstrativ an sich riss.

Doch war Bechtels Inszenierung dann stark genug, den Lapsus in Vergessenheit geraten zu lassen, bis nach einem stürmischen Applaus am Ende, der in Standing Ovations überging, die Darsteller auf Hockern an die Rampe rückten. Lea Rosh ergriff, mittig zwischen ihnen platziert, wieder das Mikrofon, und man konnte Fragen stellen.

Nicht, dass dies keine Berechtigung hätte. Aber bald steht dann auch Hubertus Knabe auf der Bühne, der Leiter der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, aus deren Zeitzeugenbörse fast alle Mitwirkenden des Abends stammen. Sie machen immer noch eine gute Figur. Aber der Abend nimmt jetzt eben doch die Wendung ins Demagogische, Parteipolitische, Abrechnende. Und mittendrin produziert sich Lea Rosh, der man die Größe gewünscht hätte, sich angesichts dieses beeindruckenden Abends im Hintergrund zu halten.

Wieder am 26. und 31. Oktober im Hans Otto Theater Potsdam