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Archiv-Artikel

In der Klapsmühle

Verkürzt, verschnitten, manipuliert – der „Big Brother“-Vorläufer „Real World“ setzt noch Maßstäbe in Sachen Dokusoap (22.30 Uhr, MTV)

von HARALD KELLER

Wer es griffig mag, könnte die Fernsehserie „The Real World“ als Mutter aller Real Life Formate apostrophieren. Aber in der Verkürzung liegt die Fälschung. 1973 zeigte das öffentlich-rechtliche US-Fernsehen PBS, dem wir auch die „Sesame Street“ verdanken, die zwölfteilige Serie „An American Family“. Zuvor waren 300 Stunden Dokumentarmaterial nach dramaturgischen Prinzipien arrangiert worden. Damit wies die Sendereihe bereits alle Merkmale des so genannten „performativen Realitätsfernsehens“ auf.

1983 orderte der renommierte Abokanal HBO, dem wir unter anderem die „Sopranos“ verdanken, die Fortsetzung „American Family Revisited“. 1992 brachte der Musiksender MTV das Format in einen popkulturellen Zusammenhang, als er in den USA „The Real World“ ins Programm nahm. Die Reihe sollte sich als Dauerbrenner erweisen – zurzeit ist bei MTV Deutschland die 12. Staffel zu sehen.

Im Mittelpunkt steht jeweils eine siebenköpfige Wohngemeinschaft, deren Bewohner eine feudale Unterkunft zur Verfügung gestellt bekommen und eine langfristige Aufgabe bewältigen müssen. Das jüngste Team war in der 28. Etage des Palms Hotel in Las Vegas untergebracht und musste im hauseigenen Club Themenpartys organisieren. Während ihres dreimonatigen Aufenthalts wurden alle Teilnehmer durchgängig von Kamerateams begleitet.

Attraktive Schauplätze gehören zum Konzept der Serie, desgleichen konfliktträchtige Konstellationen. Wie die zustande kommen, beschrieb 1998 Joe Patane in seinem Buch „Livin’ in Joe’s World“. Patane war einer der Protagonisten der fünften Staffel und hatte, seiner Darstellung zufolge, unter den Nachwirkungen öffentlich gemachten Lebens noch lange zu leiden.

Beim Casting werden die Anwärter eingehenden Befragungen unterzogen. Nichts bleibt ausgespart, der Tonfall ist inquisitorisch. Wer sich verweigert, ist bereits ausgeschieden. Die gewonnenen Informationen dienen später unter anderem dazu, spannungsreiche Situationen anzuzetteln. In der aktuellen Staffel beispielsweise gibt es mit dem Afroamerikaner Alton einen erklärtermaßen homophoben Mitbewohner, während Steven den schwulen John zu seinen besten Freunden zählt. Irgendwann erklärt Alton die Ursache seiner Homophobie: Er wäre als Kind beinahe Opfer eines Missbrauchs geworden.

Emotionale Szenen sind nicht eben rar. Altons Exfreundin glaubt, schwanger zu sein. Irulan flirtet ungeniert mit Alton, hat allerdings daheim einen festen Freund, den sie am Telefon ihrer Liebe versichert, und Trishelles Bekenntnis, ungeschützten Verkehr zu haben, sorgt für Diskussionen in der Gruppe.

Die in zehn Jahren formal kaum veränderte Reihe nahm in vielerlei Hinsicht „Big Brother“ vorweg. Zwar sind die Teilnehmer nicht zwingend an einen festen Ort gebunden, werden jedoch auch unterwegs permanent gefilmt, ihre Telefonate werden aufgezeichnet. Ähnlich wie bei „Big Brother“ gibt es einen „Bekenntnisraum“, in dem wöchentlich ein mindestens 15-minütiger Bericht abzustatten ist. Zudem müssen sich die Teilnehmer regelmäßig der Befragung durch einen der Regisseure stellen. Das gesammelte Material wird nach Belieben montiert und auch manipuliert, wie Joe Patane schreibt: „Sie schneiden mitten im Satz. Sie zeigen Dinge in falscher Reihenfolge. Der Regisseur sitzt da und stellt uns wieder und wieder dieselbe Frage, bis wir im gewünschten Sinne antworten.“

Als sehr wohl unterhaltsame und aktuellen Zeitströmungen aufgeschlossene Doku-Soap wirkt „The Real Word“ bei unvoreingenommener Betrachtung relativ zahm. Das demnächst wieder auf Sendung gehende Skandalformat „Big Brother“ aber ist ehrlicher: Hier sind sich die Mitwirkenden der andauernden Präsenz von Film- und Tonapparaturen bewusst.

Auch ist der Wettbewerbscharakter der Reihe klar definiert. Bei „The Real World“ findet der Wettstreit unterschwellig statt. Es gibt keine hohen Summen, aber Prominenz und Popularität zu gewinnen – zunächst nur abstrakte Werte, die sich indes in den USA mehr noch als in Deutschland in bares Geld ummünzen lassen.