piwik no script img

Archiv-Artikel

Es geht los!

Nach einer denkwürdigen Partie führt der Inder Viswanathan Anand das Duell um den Titel des Schachweltmeisters an. Die Schlagzeilen in seiner Heimat gehören dennoch einem anderen

AUS BONN HARTMUT METZ

Bei der Weltmeisterschaft in Bonn haben die Schachfans ihren Weltmeister gefeiert: Erstmals brandete Applaus auf, durchmengt mit „Bravo“-Rufen in der Bundeskunsthalle. Die Ovationen galten Viswanathan Anand. Der Inder beendete am Freitagabend mit einem grandiosen Schwarz-Sieg die Negativserie gegen Wladimir Kramnik. Der 38-jährige Titelverteidiger führt nach dem am Samstag folgenden Remis jetzt 2,5:1,5. Der Zweikampf, für den beide Großmeister 600.000 Euro Preisgeld erhalten, geht über maximal zwölf Partien.

„Ein Thriller“, „eine faszinierende Partie“, „sensationell draufgängerisch“: Die 500 Schaulustigen, die 35 Euro Eintritt für einen der raren Plätze in dem ausverkauften Forum berappten, und die Abertausenden der Liveübertragungen im Internet überschlugen sich bei ihren Lobeshymnen. Ins Schwelgen hatte sie alle die dritte Runde gebracht. In dieser beendete Anand eine schwarze Serie, die 53 Begegnungen währte. Vor der WM hatte sein Herausforderer aus Russland angekündigt, sie „endlich brechen zu wollen. Irgendwann muss diese Serie reißen, auch wenn das ist in der absoluten Weltspitze sehr schwierig ist“, hoffte Kramnik. Nun ließ aber der schweigsame Weltmeister Taten folgen: Erst im 54. Duell mit seinem Dauerrivalen seit 1989 gelang dem „Tiger von Madras“ der erste Schwarz-Sieg. Bis dahin konnte er lediglich viermal den „Aufschlag“ mit Weiß zu Erfolgen über den 33-Jährigen nutzen, sechsmal hatte der Exweltmeister von 2000 bis 2007 die Oberhand als Anziehender behalten. Bisher schafften die beiden als Maximum mit Schwarz 43-mal ein Remis.

Die vierte Partie endete tags darauf ohne sonderliche Höhepunkte nach 29 Zügen wieder friedlich. Anand war zufrieden mit seiner Führung, und Kramnik wohl froh, dass er mit Schwarz nicht schon nahezu vorentscheidend mit 1:3 in Rückstand geriet. Dennoch dürfte ein Fan recht behalten, der jauchzte: „Applaus für beide Spieler für diese intensive Schlacht! Endlich geht’s richtig los.“ Kramnik befindet sich nun in Zugzwang und muss ab dem zweiten Drittel des Zweikampfs auf Biegen und Brechen angreifen.

Das versuchte er bereits im dritten Vergleich, der als eine der atemberaubendsten Partien in die WM-Geschichte eingehen wird. Anand zeigte sich wieder besser vorbereitet und überraschte seinen Kontrahenten mit einem neuen Turm-Manöver im 17. Zug. Daraufhin verfiel erst Kramnik in tiefes Brüten. Nach einem kühnen Läufer-Opfer, das dem Russen eine starke Attacke versprach, musste der Inder 40 Minuten lang nachdenken. Letztlich entkam der schwarze König den gegnerischen Nachstellungen, weil der 38-Jährige die Figur zurückgab. Die Abwicklung kostete Anand zwar darüber hinaus noch zwei Bauern, doch für diesen normalerweise entscheidenden Materialnachteil ging er in den Angriff.

Da die zweistündige Bedenkzeit immer knapper wurde, konnte der jetzt in die Bredouille geratene weiße König nur unter Preisgabe der Dame dem Mattnetz entrinnen. „Mir entgingen die zwei Läuferzüge erst nach g2 und dann nach h3. Anschließend patzte ich mit dem Turmzug nach a3. Ganz schlecht war dann noch der Bauernvormarsch nach f3“, analysierte Kramnik und wusste, „so stand ich im 32. Zug auf verlorenem Posten.“ Anand vollstreckte den Angriff angesichts der Zeitnot zwar nicht perfekt, zeigte sich aber trotz des Materialnachteils sorglos. „Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob es reicht. Notfalls hätte ich jedoch immer ein Remis gehabt“, befand der Inder und strahlte, weil er ausgerechnet bei der Weltmeisterschaft der schwarzen Serie ein Ende bereitet hatte.

Angesichts des Sieges störte es den Bundesliga-Spitzenspieler der OSG Baden-Baden wenig, dass ihm in seiner Heimat ein Rivale die Schlagzeilen auf den Titelseiten raubte. Die Handvoll Journalisten aus Indien, die in Bonn dem dreifachen indischen Sportler des Jahres an den Lippen hängen, wurden mit ihren Berichten in den Innenteil der Zeitungen verbannt. Grund: Anands Landsmann Sachin Tendukar stellte einen neuen Weltrekord auf – den der meisten gelungenen „Runs“ in Cricket-TestMatches. Hunderttausende Kinder pilgern wegen dem Weltmeister in Schachschulen – nur den Nationalsport Cricket konnte Anand noch nicht von Platz eins der Beliebtheitsskala in seiner Heimat verdrängen. Tendukar wird daher auch dieses Jahr die härteste Konkurrenz sein, wenn der beste Sportler vom Subkontinent gewählt wird – selbst wenn Anand die Titelverteidigung in der Bundeskunsthalle souverän gelingt.