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Archiv-Artikel

Arbeitsrichter entscheiden heute über Horror-Schichten

Müssen Krankenhausmediziner zu viel schuften? Drei Dienste hintereinander sind bisher üblich. Ein europäisches Urteil dagegen gibt es schon

FREIBURG taz ■ Ärzte und Krankenhausbetreiber schauen heute gespannt nach Erfurt. Dort wird das Bundesarbeitsgericht entscheiden, ob die Bereitschaftsdienste von Krankenhausärzten als normale Arbeitszeit zu werten sind. Wenn ja, dann müssten tausende von zusätzlichen Medizinern eingestellt werden. „Die Ärzte haben die Schnauze voll von Wochenarbeitszeiten bis zu 70 Stunden und einzelnen Schichten mit 30 Stunden“, sagt Lutz Hammerschlag, Geschäftsführer beim Marburger Bund, dem Verband der Klinikärzte.

Regelmäßig schließt sich im Klinikalltag an den zehnstündigen Tagesdienst ein zwölfstündiger Bereitschaftsdienst an, der am Morgen in den nächsten zehnstündigen Tagesdienst übergeht. Folge: die Ärzte haben nur wenig Schlaf und sind im Dienst übermüdet, was auch die Patienten zu spüren bekommen.

Damit könnte längst Schluss sein, denn schon vor zweieinhalb Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden: Bereitschaftsdienst gilt als volle Arbeitszeit, wenn die Ärzte dabei in der Klinik bleiben müssen. Das Urteil betraf allerdings einen Fall aus Spanien, weshalb die Kliniken erst mal auf Zeit spielten. Inzwischen ist beim EuGH zwar auch ein deutscher Fall anhängig, doch bis dieser entschieden wird, können noch einige Monate vergehen.

Eine schnellere Klärung könnte heute das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt herbeiführen. Entschieden wird dort über die Klage des Betriebsrats einer Hamburger Klinik. Der Betriebsrat will erreichen, dass die EuGH-Rechtsprechung auch in der Praxis anerkannt wird. Wochenarbeitszeiten von mehr als 48 Stunden wären dann ebenso wenig möglich wie Tagesdienste unmittelbar vor oder nach einem Bereitschaftsdienst. Die Vorinstanzen entschieden bisher – auch in anderen Verfahren – meist zugunsten der Ärzte. Wenn das BAG heute wie erwartet urteilt, dann müssten nach Schätzungen des Marburger Bundes 15.000 Ärzte zusätzlich eingestellt werden. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft geht sogar von 27.000 neuen Ärzten und 14.000 sonstigen Stellen aus.

Dennoch glauben die Kassen, dass die neue Rechtslage kosten-neutral umgesetzt werden kann, da es sich nur um „organisatorische Änderungen“ handele. Mehr Ärzte würden künftig weniger arbeiten, so deren Logik. Das sehen die übrigen Beteiligten anders. Der Marburger Bund geht von Mehrkosten in Höhe von einer Milliarde Euro aus, die Krankenhausgesellschaft sogar von 1,7 Milliarden Euro, was sie für „unbezahlbar“ hält.

Zu ernsthaften Verhandlungen zwischen beiden Seiten ist es bisher noch nicht gekommen. Erst das BAG-Urteil dürfte den Startschuss geben. Der Marburger Bund hat bereits ein Modell vorgelegt, in dem er zugleich ein anderes drängendes Problem der Ärzte angehen will: Überstunden, die sehr häufig nicht bezahlt werden. Bei anderen Arbeitszeiten könnten die Überstunden fast völlig entfallen. Im Gegenzug würde der Marburger Bund nun sogar Einkommenseinbußen von rund 10 Prozent pro Durchschnittsarzt in Kauf nehmen. CHRISTIAN RATH