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Archiv-Artikel

Opposition fordert Aussprache zu Pocken

Robert-Koch-Institut: Ein Drittel der deutschen Bevölkerung ist noch teilweise geschützt. Impfung wirkt nachträglich

BERLIN taz ■ In diesen Tagen können sich hierzulande viele Leute vorstellen, wie sich die US-Amerikaner nach dem 11. September 2001 gefühlt haben. Als sei die Zerstörung des World Trade Centers nicht genug gewesen, hatten Briefe mit Milzbranderregern damals zwischen New York und San Francisco eine landesweite Angst vor Anschlägen mit Biowaffen ausgelöst. Seit dem vergangenen Wochenende gibt es nun auch Berichte über Pockenviren in Deutschland.

Der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung war es vor wenigen Tagen ein Anliegen, ein angebliches Geheimpapier des Bundesgesundheitsministeriums hochzuziehen. Die Union hat daraufhin für heute eine aktuelle Stunde zum Thema im Bundestag durchgesetzt. Der Vorwurf an die rot-grüne Regierung: mangelnde Aufklärung der Öffentlichkeit. FDP-Chef Guido Westerwelle rühmte sich gestern, über Informationen zur Pockengefahr zu verfügen, die er aber nicht veröffentlichen dürfe.

Die Fakten machen einen weniger dramatischen Eindruck. Nachdem die Weltgesundheitsorganisation die Pocken 1979 für ausgerottet erklärt hatte, wurden offiziell alle Virenbestände in zwei Lager gebracht, eins in die USA, das zweite in die ehemalige Sowjetunion. Seitdem gibt es keine Belege für eine Verbreitung. Eine „abstrakte Gefahr“ für die Bevölkerung sei demnach nicht grundsätzlich auszuschließen, konkrete Hinweise gebe es aber nicht, erklärte das Bundesinnenministerium. Der Irak besitze höchstens Kamelpockenviren, die für Menschen nicht gefährlich seien.

Beim zuständigen Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin heißt es, etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung verfüge noch über einen gewissen Impfschutz gegen Pocken. Weil 1972 der letzte Pockenfall in Westdeutschland registriert worden sei, habe man die Pflichtimpfung 1976 abgeschafft, sagt RKI-Sprecherin Susanne Glasmacher. In der DDR wurde 1981 zum letzten Mal geimpft. Die Impfungen von damals müssten im Notfall aufgefrischt werden. Der letzte natürliche Fall von Pocken ereignete sich 1977 in Somalia.

Zurzeit stehen in Deutschland etwa 50 Millionen Impfrationen zur Verfügung. Anfang April sollen 70 Millionen Impfungen vorrätig sein, so das Bundesgesundheitsministerium. Nach Informationen des RKI wird nicht prophylaktisch geimpft, weil das Gegenmittel seit den 70er-Jahren nicht weiterentwickelt wurde und erhebliche Nebenwirkungen verursacht.

Das Risiko einer Impfung ohne konkrete Gefahr sei deshalb zu groß, heißt es beim RKI. Von einer Million Geimpften würden statistisch gesehen 20 Personen „neurologische Störungen“ erleiden, zum Beispiel erblinden. Zwei Menschen aus einer Million würden im Durchschnitt an den Folgen der Prophylaxe sterben. Unter anderem deshalb ist der Impfstoff gegenwärtig in Deutschland nicht frei erhältlich. Die Impfung ist noch wirksam, wenn sie innerhalb von vier Tagen nach Kontakt mit dem Virus verabreicht wird.

HANNES KOCH

www.rki.de/infekt/bioterror/pocken_faq.pdfmeinung und diskussion SEITE 12