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Archiv-Artikel

Kassenärztliche Vereinigung

Sie wäre sogar lieber Haut- als Allgemeinärztin. Obwohl sie dann so wenig verdienen würde wie ihr Mann

aus Berlin SUSANNE KLINGNER

Sprechzimmer 2: Herr P. zieht seine Socken aus und zeigt den Fußpilz. „Ich will ihn endlich loswerden.“ Wie lange er ihn schon hat, fragt Dr. Heinrich Müller. „Seit einigen Jahren. Und ich war auch schon bei einem anderen Arzt in Behandlung, aber ich hab sie abgebrochen.“ Patient und Arzt machen eine Erstuntersuchung, Fragen und Antworten werden ausgetauscht. Dann kratzt sich Dr. Müller etwas Nagel in ein Schälchen und erklärt, die Probe gehe ins Labor. In einigen Wochen wüsste er dann genau, um welchen Pilz es sich handle, und die Therapie könne beginnen. „In neun Monaten sind sie den Nagelpilz los“, verspricht er. Eine knappe Viertelstunde dauert das Gespräch. Am Quartalsende werden diese 15 Minuten als Ziffer 1 auf der Abrechnung des Arztes stehen. Die Krankenkasse wird erfahrungsgemäß 195 Punkte gutschreiben, und Dr. Müller, Facharzt für Hautkrankheiten, wird etwa sechs Euro verdienen.

Sprechzimmer 1: Herr S. steht auf und zeigt Dr. Cara Tjaden-Müller, wo es wehtut. Heute Morgen konnte er sich kaum bewegen. Schon seit einigen Tagen habe er Rückenschmerzen: „Heute, beim Einkaufen, war es besonders schlimm.“ Dr. Tjaden-Müller fragt: „Ist der Schmerz eher stechend oder ziehend? Tritt er beim Bewegen oder im Ruhen auf?“ Sie hört Herrn S. zu, nickt und macht sich Notizen. Dr. Tjaden-Müller gibt ihm beim Gehen ein Rezept für sechs Massagen und ein Schmerzmittel für den Notfall mit. Am Quartalsende werden diese 15 Minuten als Ziffer 1 auf der Abrechnung der Ärztin stehen. Die Krankenkasse wird 265 Punkte gutschreiben und Dr. Tjaden-Müller, Fachärztin für Allgemeinmedizin und Allergologie, wird etwa neun Euro verdienen.

Heinrich Müller und Cara Tjaden-Müller sind verheiratet und führen seit 18 Jahren eine Gemeinschaftspraxis. Weil sich bei ihnen sehr vieles ähnelt, bei der Arbeit, im beruflichen Werdegang, in der Ausstattung, lassen sich an ihnen die seltsamen Unterschiede zeigen, die das komplizierte Abrechnungssystem der deutschen Krankenkassen macht. Das System, das allein bei den 15-Minuten-Standardbehandlungen der Ziffer 1 dazu führt, dass die Ärztin für Allgemeinmedizin und Allergologie am Ende eines Quartals mehrere tausend Euro mehr abrechnen kann als ihr Mann, der Facharzt für Hautkrankheiten: Denn bei rund 1.700 solcher Behandlungen in drei Monaten summiert sich der kleine Unterschied von drei Euro zu einer erheblichen Differenz. Cara Tjaden-Müller sagt: „Das ist ungerecht.“

Weder in der Ausbildung noch im Beruf können sie irgendwelche Unterschiede in ihrer Leistung als Ärzte sehen. Herr und Frau Doktor sitzen in zwei ähnlich eingerichteten, gleich großen Sprechzimmern, beide haben zusätzlich jeweils einen Operationsraum. Cara Tjaden-Müller erhebt keinen Anspruch auf mehr Territorium in der Gemeinschaftspraxis, nur weil sie mehr verdient als ihr Mann.

Die beiden haben sich in der Spandauer Hautklinik kennen gelernt. „Heinrich war Oberarzt, ich Assistenzärztin“, sagt Cara Tjaden-Müller. Vorher hatten sie beide sechs Jahre studiert, ein Jahr lang die medizinische Assistenz absolviert und sich vier Jahre zum Facharzt weitergebildet. Alles gleich. Bis auf den Punktwert, den sie nun für ihre Arbeit berechnet bekommen. Cara Tjaden-Müller hat für jeden Patienten im Quartal 610 Punkte zu Verfügung, für jeden Rentner 1.220 Punkte. Heinrich Müller muss dagegen mit 415 Punkten beziehungsweise 480 Punkten im Quartal hinkommen. Und einige Leistungen kann nicht jeder Arzt abrechnen. „Zum Beispiel kann ich als Allgemeinärztin eine Ganzkörperuntersuchung machen. Für mich gibt es eine Ziffer, das heißt, die Untersuchung bezahlt die Krankenkasse auch. Wenn mein Mann die gleiche Untersuchung macht, kriegt er keinen Cent. Weil es für Hautärzte keine Ganzkörperuntersuchung gibt.“

Das Punktesystem der Krankenkassen ist nicht leicht zu durchschauen. Es berechnet sich nach dem Geld, das den Krankenkassen zur Verfügung steht und der Anzahl der Behandlungen in einem Quartal. Wenn also mehr Menschen im Quartal krank werden, beispielsweise durch eine Grippewelle, sinkt der Punktwert. Wie viel überhaupt pro Leistung, also Ziffer, vergeben wird, entscheiden die Ausschüsse der Kassenärztlichen Vereinigung (KV), die Berufsvertretung der Kassenärzte. Also richtet sich jede Kritik am Punktesystem letztendlich an die eigene Berufsvertretung. Allerdings ist es für alle niedergelassenen Ärzte Pflicht, der Kassenärztlichen Vereinigung beizutreten. Da sich die KV-Ausschüsse selbst verwalten, ist nicht garantiert, dass von jeder Sorte Arzt auch einer in jedem Fachausschuss sitzt. Diejenigen, die drin sitzen, werden ihre eigene Berufsgruppe kaum benachteiligen. Heinrich Müller, der Hautarzt, vermutet, dass er weniger als seine Frau verdient, weil in der Kassenärztlichen Vereinigung, die die Budgets mit den Krankenkassen aushandelt, mehr Allgemeinärzte sitzen. „Die haben eine stärkere Lobby.“

Cara Tjaden-Müller schlägt im dicken Ziffernkatalog der Kassenärztlichen Vereinigung nach. Sie zählt auf, wer wie viel für welche Leistungen bekommt und welche gar nicht erst aufgeführt sind. Zum Beispiel gibt es da das Dermatoskop, auch Auflichtmikroskop genannt. Durch das schaut Heinrich Müller rund 20-mal am Tag auf veränderte Hautstellen von Patienten. Und kriegt kein Geld dafür. Denn es gibt keine entsprechende Ziffer.

Das Ärzteehepaar hat ein grundsätzliches Problem mit dem Kassensystem. Weil der Wert der Punkte sich verändert, leisten sie nach eigener Einschätzung rund ein Viertel aller Untersuchungen und Behandlungen ohne Entgelt. Weil sie ihre Punkte ausgeschöpft haben. „Wir merken nicht in dem Moment, in dem der Patient vor uns steht: Das mache ich jetzt umsonst. Das weiß man erst am Ende des Quartals, wenn die Leistungen zusammengezählt werden“, sagt Heinrich Müller. Seine Frau kümmert sich um die Abrechnung, sie hat die Zahlen im Kopf. Sie zeigt, welche Leistungen mit welchen Ziffern bedacht werden, erklärt, dass vieles, was vor einigen Jahren noch mit einer eigenen Ziffer abgerechnet wurde, nun unter anderen Ziffern zusammengefasst wird und damit weniger wert ist.

Dass sie unterschiedlich viel verdienen, merken die beiden nur bei der Abrechnung. „Letzten Endes tun wir unser Geld ja wieder zusammen“, sagt Cara Müller-Tjaden. Wir machen da privat natürlich keine Unterschiede.“ In ihrer Praxis haben sie ihre beiden Punktebudgets zusammengetan. Das bedeutet, dass für jeden Patienten das arithmetische Mittel der Punktwerte, die Haut- und Allgemeinarzt zugebilligt werden, zur Verfügung stehen – die Hautarztpatienten, die eigentlich weniger bekämen, profitieren vom internen Rechenmodell des Ärztepaars. Trotzdem muss bei der Kasse am Ende jedes Quartals getrennt abgerechnet werden. Je nachdem, wer von beiden behandelt hat, zahlt die Kasse mehr oder weniger.

Cara Tjaden-Müller schwankt zwischen Empörtsein und Resignation. Sie sagt, dass sie und ihr Mann 130 Prozent leisten, aber nur 100 Prozent bezahlt bekommen. „Das ist nicht in Ordnung, das würde kein anderer Berufsstand machen.“ Die beiden diskutieren oft über das Krankenkassensystem, auch mit befreundeten Ärzten. Das Gesundheitssystem an sich sei das Problem. „Da wird überversorgt“, sagt Cara Tjaden-Müller. „Wenn sich einer beim Fallschirmspringen so verletzt, dass er sein Leben lang in Behandlung bleibt, dann muss das die Allgemeinheit tragen.“ Das könne das deutsche Gesundheitssystem nicht mehr leisten.

Seine Frau verdient mehr, weil die Allgemeinmediziner eine stärkere Lobby haben, vermutet der Hautarzt

Es stößt bereits jetzt an seine Grenzen. Deshalb fände es das Ärztepaar beispielsweise gerechter, wenn Risikosportler, aber auch Raucher selbst Verantwortung für ihr Verhalten tragen müssten. „Eine neue Hüfte mit 70 kriegt man in keinem anderen europäischen Land“, sagt Heinrich Müller. „In Deutschland werden die Leute zwar genauso alt wie anderswo, aber mit einer deutlich höheren Gesundheitsqualität.“

Um die eigenen Ausgaben im vorgegebenen Rahmen zu halten, versuchen die beiden auch, am Arzneimittelbudget zu sparen, jenem Topf, aus dem die Kassen die Medikamente getrennt von den ärztlichen Leistungen finanzieren. Verschreibt ein Arzt Arzneimittel für mehr Geld, als budgetiert ist, muss er diese selbst bezahlen. Das Ärztepaar Tjaden-Müller musste noch nie nachzahlen, vor allem weil sie versuchen, statt teure Markenmedikamente die billigeren nachgeahmten Mittel, Generika, zu verschreiben. Bevor sie ein Rezept ausstellen, schlagen sie in einem dicken, roten Buch auf ihren Schreibtischen, der Roten Liste, den Wirkstoff nach. Erst dann stellen sie ein Rezept aus. Das spart Geld, ist aber immer mit einem Mehraufwand verbunden: „Die Zeit, in der ich hier nachschlagen muss, um mein Budget zu schonen, könnte ich auch für Patienten nutzen“, sagt Heinrich Müller.

Wer als Kassenarzt gut verdienen will, muss gut sein im Kalkulieren und Nachschlagen. Der Arzt muss dann immer im Kopf haben, wieweit sein Punktbudget schon ausgeschöpft ist, welche Fachbehandlungen er noch machen kann und welche Medikamente für wie viel Geld er noch verschreiben darf, ohne am Quartalsende ins Minus zu rutschen. Heinrich Müller sagt: „Wir versuchen, sinnvoll und preiswert zu verordnen. Wir wollen Kassenpatienten nicht schlechter als Privatpatienten behandeln.“ Also überlegen die Ärzte bei jeder Behandlung, wie notwendig sie ist. Viele Leistungen bezahlen mittlerweile die Patienten selbst. „Individuelle Gesundheitsvorsorge“ heißt das dann.

Die beiden sind jetzt 55 Jahre alt. Sie dürfen arbeiten, bis sie 68 sind, und das werden sie auch. Sie würden immer wieder den gleichen Beruf wählen. „Die Arbeit macht ja trotz aller Probleme und Ungerechtigkeiten Spaß“, sagt Cara Tjaden-Müller. Sie würde sogar lieber Haut- als Allgemeinärztin werden, wie sie es ursprünglich vorhatte. Obwohl sie dann weniger verdienen würde.

Wenn sie in Rente gehen, werden sich beide um Nachfolger bemühen müssen. Es ist sehr schwierig, eine Praxis zu verkaufen. Früher war das für die Altersvorsorge der niedergelassenen Ärzte. Von dem Erlös ließ sich die Rente ganz gut genießen. Tjaden-Müllers haben keine Kinder. Ob sie die Praxis weitergeben können, wissen sie noch nicht.