Von den Nazis zum Außenseiter gemacht

Das neu erschienene Buch „Das gefährdete Leben“ ist mehr als die Biographie des früheren Leiters des Gesundheitsamtes, Franz Vonessen. Es ist zugleich eine gut verständliche Einführung in die „Rassenhygiene“-Politik im Dritten Reich und in Köln

VON DIRK ECKERT

„Das gefährdete Leben. Der Kölner Arzt und Gesundheitspolitiker Franz Vonessen“ heißt ein Buch, das jetzt im Kölner Greven Verlag erschienen ist. Damit hat der Autor, der Historiker und Theologe Klaus Schmidt, nach Büchern über den Armenarzt Andreas Gottschalk und den alternativen Karnevalisten Franz Raveaux ein weiteres Mal eine Biographie über einen Kölner vorgelegt, der sonst hinter illustren Namen wie Adenauer oder Millowitsch verschwunden wäre. Um es gleich vorweg zu sagen: eine lohnende Lektüre. Schmidt versteht es, nicht einfach nur die Lebensgeschichte des 1892 geborenen Arztes und Leiters des Kölner Gesundheitsamtes Franz Vonessen, eines typischen Vertreters des rheinischen Katholizismus, zu erzählen. Das Buch ist zugleich eine flüssig geschriebene, leicht verständliche Einführung in die „Volksgesundheit“- und „Rassenhygiene“-Politik der Nazis und zeigt, wie diese in Köln umgesetzt wurde.

Schmidt entführt die Leserinnen und Leser in eine Zeit, in der Ärzte, Richter, Wissenschaftler auch in Köln über „gesunde Volkskörper“ und „unwertes Leben“ diskutierten und die „Kosten der erblich Belasteten“ für die „Volksgemeinschaft“ berechneten. Falls noch jemand der Mär von den angeblich liberalen Kölnern anhängt, die das NS-System nie wollten, so kann dieses Buch Abhilfe schaffen. Schmidt bringt die Beispiele zweier junger Frauen, die wegen „Schwachsinns“ gegen ihren Willen sterilisiert wurden. Beide Fälle begannen damit, dass ein Arzt – von sich aus und ohne Not – einen Antrag auf Unfruchtbarmachung stellte. Proteste der Eltern waren vergeblich, in beiden Fällen gaben Gerichte dem Antrag statt – unter williger Mitwirkung verschiedener hinzugezogener Ärzte.

Hitlers willige Kölner

Schmidt erwähnt auch eine eher unbekannte Gruppe von NS-Opfern: die Farbigen im Rheinland. Auch hier konnten sich die Nazis auf ihre Deutschen verlassen. Geboren nach dem Ersten Weltkrieg als Kinder deutscher Frauen und französischer Besatzungssoldaten schwarzer Hautfarbe, lebten Mitte der 30er Jahre 385 Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe im Rheinland. Diese „Kulturschande“, wie es alle Reichstagsparteien außer der USPD nannten, wollten nicht nur die Nazis beseitigen. Die „Verwendung farbiger Truppen niederster Kultur als Aufseher über eine Bevölkerung von der hohen geistigen und wirtschaftlichen Bedeutung der Rheinländer“ sei „eine herausfordernde Verletzung der Gesetze europäischer Zivilisation“, wusste schon 1923 kein geringerer als Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD).

Die Bilanz dieser Politik allein in Köln: Bis 1943 führte die Chirurgische Universitätsklinik über 1.000 Sterilisationen durch, das Evangelische Krankenhaus Weyertal über 500. Dem verharmlosend „Euthanasie“ genannten Mordprogramm an Behinderten fielen auch so genannte „Erbkranke“ aus Köln, etwa aus den „Riehler Heimstätten“, zum Opfer. Nach dem Krieg konnten die Täter weiter machen, als sei nichts gewesen. Die NS-Gesetze wurden als „nicht typisch nationalsozialistisch“ angesehen, wie es der Oberpräsident der Nord-Rhein-Provinz, Hans Fuchs, formulierte. Schließlich waren Zwangssterilisationen damals auch in 29 US-Bundesstaaten an der Tagesordnung.

Kein Wunder, dass die Täter nicht das geringste Schuldbewusstsein hatten: Als das Oberlandesgericht 1946 Stellungnahmen der Universität Köln zum „Erbgesundheitsgesetz“ verlangte, argumentierte Dr. med. Wolf Bauermeister sogar, dem Gesetz komme „heute eher eine gesteigerte Bedeutung zu, da der uns verbleibende Lebensraum ohne Zweifel nicht reicht“. Der Mann war damals immer noch Dozent für „Anthropologie, Erbbiologie und Rassenhygiene“.

Das Beispiel Franz Vonessen zeigt, dass es sehr wohl möglich war, sich der NS-Politik zu verweigern. Schon vor 1933 lehnte er alle Vorstellungen von „Rassenhygiene“ ab und definierte die Gesundheitsfürsorge so: „Schädigungen der Gesundheit infolge der sozialen Verhältnisse verhüten und durch vorbeugende Arbeit die Volksgesundheit heben“. Dementsprechend interessierten ihn Zeit seines Wirkens vor allem die hygienischen Verhältnisse in der Stadt. Als die Nazis an die Macht kamen, wollte er sich als Katholik nicht an zwangsweisen Sterilisationen beteiligen. Den Nazis galt er als „unzuverlässig“, bald nach der 1933 wurde er versetzt.

1935 verstaatlichten die Nazis die Gesundheitsämter, was nichts anderes bedeutete, als dass die Ämter einschließlich ihrer Angestellten für die Umsetzung der NS-Ideen zuständig waren. Als Vonessen sich offen weigerte, an den Zwangssterilisierungen mitzuwirken, wurde er in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Damit war seine Karriere beendet, und er eröffnete seine eigene Praxis, in die vor allem Nazi-Gegner und Verfolgte kamen. Vonessen half, so gut er konnte, stellte bereitwillig „weitherzige“ Atteste aus oder besorgte Lebensmittel und -karten. Nach dem Krieg wurde er als unbelasteter Mediziner wieder ins Gesundheitsamt berufen, das er jetzt mit aufbaute.

Doch obwohl Franz Vonessen im Nationalsozialismus seine Arbeit verlor, keines seiner sechs Kinder in die Hitler-Jugend ging und er Verfolgten half, bleibt er eine widersprüchliche Person. Derselbe Vonessen, der sich nach Aussagen einer seiner Töchter nach dem Krieg Vorwürfe machte, keine Juden im eigenen Haus versteckt zu haben, ließ ehemalige Nazis im Kölner Gesundheitsamt unter seiner Leitung Karriere machen. So wurde Medizinalrat Walther Auer, der unter den Nazis zahlreiche Funktionen bekleidet hatte und unter anderem Leiter der Beratungsstelle für Erb- und Rassenpflege war, nach 1945 sogar zum Obermedizinalrat befördert.

Auch in den Streit um das Gebäude des Gesundheitsamtes am Neumarkt – die jüdischen Besitzer hatten es nach der Reichspogromnacht verkaufen müssen, nach dem Krieg wollte die Stadt keine Entschädigung zahlen – mischte sich Vonessen nicht ein. Auch das ist eine der Stärken des Buches: Schmidt zeigt immer wieder auf, wann Vonessen Gelegenheit gehabt hätte, öffentlich Stellung zu beziehen – und wie er sie ein ums andere Mal verstreichen ließ. Schmidt kommt nicht umhin, Vonessen „vergangenheitspolitisches Schweigen“ zu attestieren.

Unfreiwilliger Widerstand

Wie passt es zusammen, dass Vonessen seine private Überzeugung so selten öffentlich machte und damit in antifaschistische Politik umsetzte? Der Historiker Schmidt enthält sich einer eindeutigen Antwort und erzählt stattdessen eine Begebenheit, die wahrscheinlich der Schlüssel zur Erklärung für Vonessens Verhalten ist.

1960, Vonessen ist längst im Ruhestand, kommt es zu einer Kontroverse zwischen ihm und seinem Sohn Franz Klemens, der Dozent für Philosophie in Freiburg ist. Dieser hatte einen Solidaritätsaufruf für die Professorin Renate Riemeck unterzeichnet, die wegen „Ostkontakten“ nicht in ein staatliches Prüfungsamt berufen worden war. Daraufhin schrieb ihm der Vater: „Tief schmerzlich war uns die Erkenntnis, dass Du (...) Dich offen an einer Aktion politischer Aussenseiter beteiligst.“

Als der Sohn dem Vater vorhält: „Außenseiter warst Du selbst im Dritten Reich“, antwortet dieser: „Ich wurde bei den Nazis zum Bekenner, weil ich gezwungen wurde; Du drängst Dich ganz ohne Not dazu.“ Wäre sein Widerstand also geringer ausgefallen, wenn die Nazis nicht versucht hätten, ihn als Arzt für ihre Politik einzuspannen? Selbst wenn, würde das seine persönlichen Verdienste nicht schmälern. Es zeigt aber deutlich die Grenzen des rheinischen Katholizismus auf.

Klaus Schmidt: Das gefährdete Leben. Der Kölner Arzt und Gesundheitspolitiker Franz Vonessen (1892-1970), Greven Verlag, Köln 2004, 214 Seiten, 19,90 Euro