Grooves der guten Hoffnung

Zwei Wochen Fortbildung in Sachen Dancefloor – in Kapstadt. Eingeladen hatte eine österreichische Getränkefirma. Und es kam das Who‘s who der internationalen DJ-Szene. Eine Art Tagebuch

von THOMAS WINKLER

Patrice ist schon da. 9.645 Kilometer Luftlinie später, anderthalb Kontinente überquert, und auf der Bühne steht Patrice Bart Williams Babatunde aus – Kerpen bei Köln. Es ist ein frösteln machender Frühlingsabend in der europäischsten Stadt Afrikas. Patrice singt, sein Reggae wärmt; der südafrikanische Rotwein hilft ihm ein wenig dabei.

Hinter Patrice türmen sich sorgsam arrangierte Feldsteine zu einer meterhohen Kulisse, die die Freilichtbühne des kleinen Distrix Café in ein Löwengehege verwandelt. Drinnen, an der Theke, erzählt der Besitzer, wie er mit Freunden und bloßen Händen monatelang den Steingarten baute. Abdullah Ibrahim, Jazzmusiker, ist stolz auf das Café, das mit Namen und Lage an den alten District Six gemahnt, das einst lebendigste schwarze Viertel Kapstadts, ehe es 1966 vom Apartheidregime geschleift wurde.

Fünfzigtausend Bewohner wurden damals vertrieben, Bulldozer machten alles platt. Als wir ihm die Adresse nannten, hat der Mann vom Fahrdienst, halb im Scherz, gefragt, ob wir bewaffnet seien. Er ist weiß. Man lernt schnell, wie wichtig die Hautfarbe in diesem Land auch bald zehn Jahre nach der Freilassung Nelson Mandelas noch ist.

Nun ragen hinter der Bühne, keine dreißig Meter entfernt, triste Neubaublocks in den Nachthimmel. Plattenbau in Marzahn, Project in der Bronx, Banlieue in Paris oder im District Six in Kapstadt: Die Globalisierung gibt auch dem Elend ein einheitliches Gesicht.

Kapstadt scheint weniger eine Stadt mit eigener Identität als eine Folie, auf der der Besucher die eigene Herkunft spiegeln kann. Umso mehr an diesem Abend im Distrix Café, als sich unter der Obhut der samtweichen Stimme von Patrice junge Menschen aus aller Welt zusammenfinden. Sie kommen aus Bulgarien und Brasilien, Polen oder Portugal, aus Russland und den USA.

Bereits zum siebten Mal hat ein weltweit operierender Getränkehersteller aus dem österreichischen Fuschl insgesamt sechzig Nachwuchs-DJs und -Produzenten Flügel verliehen und sie zur Music Academy an einem exotischen Ort zusammengezogen, auf dass sie von den Meistern ihres Fachs – wie Patrice aus Kerpen – das Handwerk der Tanzbodenbeschallung lernen mögen. Dreißig Auserwählte treffen sich für zwei Wochen in einem renovierten und von südafrikanischen Künstlern eingerichteten Lagerhaus in Kapstadt, hören Vorträge über Musikgeschichte und übers Musikmachen, downloaden Musik, reden über Musik, mixen Musik, machen Musik und legen schließlich in den örtlichen Clubs Musik auf.

Schnell verschwinden die Unterschiede zwischen Ilkay, die zu Hause in Istanbul als Frau in DJ-Kreisen positive Diskriminierung erfährt, und Sofie, die in Sydney selbstbewusst längst ein eigenes Studio betreibt. Ob Nicholas aus Genf, der in Rockbands spielte, bevor er begann, broken beats aufzulegen, oder Sebastian aus Stuttgart, der ganz klassisch Klavier lernte und sich nicht einmal als DJ sieht, sondern seinen Laptop wie ein Instrument bedient.

Sie sind Techno-DJs und Lounge-DJs, House-DJs und HipHop-DJs, die meisten sind Anfang zwanzig, man trägt Lässiges von unaufdringlichen Marken oder gleich No-Name-Klamotten; Verkehrssprache ist Englisch, das Schlüsselwort inspiring. Sie alle sind plötzlich Lernende, die sich inspiriert fühlen von den neuen Bekanntschaften, sind nun Weltenbürger, deren kulturelle Unterschiede durch die Liebe zur elektronisch erzeugten Musik nivelliert werden. Justine beispielsweise, in Berlin lebende, australische DJane, macht „eine besondere Erfahrung, einen Urlaub mit vielen interessanten Leuten“. Deswegen entwickelt die Veranstaltung schnell die Atmosphäre einer Klassenfahrt. Und deshalb dauert jede Nacht lang.

So beginnen die Tage meist erst Mittag. Man schlurft in den großen Raum, holt sich eine Dose aus den Vorräten des Sponsors, sucht sich einen Sessel und hört einem kleinen Mann mit Schiebermütze zu, der sich vorne aufs Sofa gesetzt hat. Es ist Clive Chin, legendärer Produzent aus Jamaika. In Randy’s, dem von seinem Vater gegründeten Studio in Kingston, haben alle aufgenommen: Bob Marley & the Wailers und Peter Tosh, Lee Perry und Black Uhuru. Und Chin stand hinter den Reglern.

So einer hat was zu erzählen. Da hören die jungen Leute zu. So wie sie dem alten grauhaarigen Mann zugehört haben, den die meisten einfach Bob nennen. Nur die Älteren sagen Dr. Moog. Das ist ein bisschen ironisch gemeint, hat aber vor allem einen ehrfurchtsvollen Klang. Denn Bob Moog hat 1964 den Synthesizer erfunden. Hier hat er dem Nachwuchs von den Wundern der analogen Klangerzeugung berichtet, hat an Knöpfchen gedreht, diesen ebenso typischen wie seltsamen Modulationen seiner Geräte hinterhergelauscht und dabei den Kopf zur Seite gelegt und verträumt geguckt.

Das war vor drei Tagen, und Bob ist immer noch da. Jeden Tag. Bob redet mit uns, erzählt von früher, genießt die klasse Atmosphäre. Bob ist begeistert. „Davon werde ich noch lange zehren“, sagt der 69-Jährige, „das ist eine der großen Erfahrungen meines Lebens.“

Wen man auch fragt, ob Teilnehmer oder die für ein eher symbolisches Honorar anreisenden Dozenten, jede und jeder ist begeistert über diese Fortbildungsmaßnahme. Justine, die australische Berlinerin, wundert sich nur, dass der Namenssponsor „uns nicht mehr für Werbezwecke einspannt“.

Tatsächlich sieht sich die Firma, die sonst in Trend- und Extremsportarten investiert, als moderne Mäzenin und diese Veranstaltung als Mittel, die Marke am Mainstream vorbei zu kommunizieren.

Der Erfolg der Guerillawerbestrategie gibt dem Konzept Recht: Die mit dem aufputschenden Taurin und reichlich Koffein versetzte Limonade beherrscht nahezu weltweit den Markt an Partygetränken. Im Duty-Free-Shop des Frankfurter Airport steht die schlanke silberne Büchse ebenso im Kühlregal wie im muslimischen Eckladen in Kapstadt, während der Kultstatus trotz Quasimonopol dank des unaufdringlichen Werbekonzept erhalten bleibt.

Auch Marcus Intalex hat den Weg aufs Sofa zwischen den beiden gewaltigen Boxen gefunden. Intalex, eine Größe im Drum-&-Bass-Geschäft, erzählt davon, wie aus einem oft nicht einmal sekundenlangen Sample ein pumpender Track entsteht, wie sich manchmal die Musik scheinbar wie von selbst generiert. So fragt er: „Bin ich spirituell?“

Derweil platziert Thorsten Schmidt, einer der drei Organisatoren der Music Academy, einen Plastikbecher auf einem der grauen Mülleimer. Intalex spielt einen seiner Tracks vor, und als der Bass einsetzt, beginnt der Becher zu tanzen, bis er schließlich abstürzt. „Der alte Ravertest“, so Thorsten, „hat wieder einmal funktioniert“, der Bass ist fett.

Zum Abschluss der Vorlesung will Barbara aus Österreich wissen, wie es um das Hörvermögen von Intalex bestellt ist. Auf dem linken Ohr sei er nahezu taub, antwortet der, und wegen des ständigen Rauschens in seinem Kopf könne er nur mehr bei Musik einschlafen. „Benutzt Ohrenstöpsel“, rät er.

Abends sind diese wieder vergessen. Intalex schickt harten Drum & Bass durch The Lounge. Die vielen verschachtelten, viel zu kleinen Räume des Clubs vibrieren. Manche tanzen, andere nicht, das Publikum ist sehr jung und sehr gemischt. Um das DJ-Pult drängeln sich wie in jedem Club der Welt die angehenden Plattenaufleger, die so genannten Decksharks, die jeden Griff ihres Helden aufmerksam registrieren. Fortbildung am lebenden Objekt.

Die weniger Wissbegierigen beobachten vom Balkon aus die Long Street, das Zentrum des Kapstädter Nachtlebens. Wie in jeder anderen Stadt der Welt treiben die Clubgänger über den Asphalt, immer auf der Suche nach der nächsten Adresse, der angesagteren Musik, der besseren Stimmung, dem versprochenen Glück. Man trägt Kurzärmeliges. Im Hotelfernseher wurde eben berichtet, dass in der Heimat der Winter mit Kraft ausgebrochen sei. Hier beginnt gerade der Frühling.

Also runter auf die Straße. Bekannte Gesichter. Woher kommt ihr?, was wird da gespielt?, wir kommen von da, wir gehen nach dort, wer legt auf? Einen grandiosen Moment lang gibt es nichts Wichtigeres, als unbedingt und sofort und auf der Stelle in den nächsten Club zu müssen.

Im The Fez entspannen sich anständig gekleidete Werber von einem langen Tag in den Schaltzentralen der Macht. Das neue Südafrika hat viele Gesichter und dieses hier ist eines davon. Der Dancefloor ist nur locker gefüllt, ausschließlich von Weißen und Coloureds, jenen Nachfahren der von den ersten Kolonisatoren am Kap importierten Sklaven, die während der Apartheid gegenüber den afrikanischstämmigen Schwarzen bevorteilt wurden. Das Regime teilte und herrschte, und die Folgen sind noch heute sichtbar.

Die Hemden sind teuer, die Drinks gepflegt, die Beats wohltemperiert. Angehende Börsenmakler sitzen an Tischchen, eine Flasche im Weinkühler, und diskutieren letzte Kursentwicklungen. House und Soul füllen den großzügigen Raum bis in den letzten Winkel mit dem fetten, selbstgefälligen Sound, der international für eine gute Zeit steht. Die Party-People aller Länder sprechen dieselbe Sprache.

Wieder draußen, ist die Luft unwirklich klar. Wenige Meter von der Long Street entfernt ist die Stadt sofort nur trüb beleuchtet. Vor dem Snap wächst die Schlange. Der Türsteher ist ernst, die Leibesvisitation sorgfältig. Kurze Hosen und Kopfbedeckungen sind verboten, Möchtegerngangster sollen draußen bleiben. Im Raum verteilt Security-Guards, deren knappe T-Shirts offenbaren, dass sie ihre Tage mit Eisenpumpen zubringen.

Im Snap läuft Kwaito, nahezu ausschließlich Kwaito. Jeder hier ist schwarz, und jeder hier tanzt. Arme fliegen in die Luft, neue Tunes werden frenetisch begrüßt, fast jedes Wort mitgesungen. Madonnas „La Isla Bonita“ wirkt dazwischen wie ein Fremdkörper, aber die Party geht ungehindert weiter. Auch als der DJ Bob Marley auflegt, seine größten Hits in einem aktuellen Remix.

Ein schöner Zufall, denn nur ein paar Meter weiter steht der kleine Mann, der vor mehr als drei Jahrzehnten einen jungen Bob Marley produziert hat. 49 ist Clive Chin mittlerweile, sieht mindestens zehn Jahre älter aus und hat sich hinter jemanden mit breiteren Schultern geflüchtet. „They harass me“, hatte er erklärt, mit dem Kinn in Richtung einiger Frauen gezeigt und noch erwähnt, dass er lange schon zu alt sei, um Mrs. Chin untreu zu werden.

Tatsächlich scheinen auf den ersten Blick die sexuellen Machtverhältnisse im Snap auf den Kopf gestellt. Auf dem Weg zum Klo legt sich des Öfteren ein Paar weibliche Hände ungefragt auf männliche Hüften, immer wieder flüchten Vertreter des starken Geschlechts von der Tanzfläche. Sex liegt in der Luft, aber, gewiss, der Großteil davon wird in Geld bezahlt werden. Kurz bevor die Dämmerung einsetzt, behauptet der schwule Barkeeper, der jede Nacht in der Hotelbar Dienst tut, dass in Kapstadt mehr Männer als Escortmodelle ihre Dienste anbieten als Frauen.

Mit jedem Sonnenaufgang scheint die Academy ein wenig schläfriger zu werden. Seltsam apathisch wird der Auftritt von Anthony Shakir aufgenommen, einem an Multipler Sklerose erkrankten Technopionier aus Detroit. „Ich hatte gar nicht das Gefühl, ich würde eine Vorlesung halten“, wird er später aufgeräumt erzählen, „ich hab doch nur so vor mich hin geredet.“

Vielleicht hat die Teilnehmer auch der Witz des schweren Mannes im Rollstuhl mitgenommen, der beständig zwischen Ironie und Verbitterung schwankte. „Es ist wichtig“, sagt Organisator Schmidt, „dass die Leute auch mal mitkriegen, dass es noch andere, wichtigere Dinge im Leben gibt als die Musik.“

Dazu, zugegeben, wäre Kapstadt ein wohl gewählter Ort. Vom Tafelberg aus mag die Stadt wie ein Traum wirken, aber kommt man vom Flughafen mit dem Taxi, sieht von nahem alles entschieden genauer aus: endlose Wellblechsiedlungen der Townships, aber schon zum Wasser hin ein Golfplatz – Afrika scheint wieder zu entrücken.

Im örtlichen Imax, an der zur Touristenfalle ausgebauten Waterfront, läuft „Matrix Revolutions“. Zwischen zwei Townships entsteht ein riesiges Filmstudio, denn Südafrika wird als Location immer beliebter: Zunehmend verlagert Hollywood seine Produktion vom ehemals billigen Kanada ans Kap. Das globale Dorf rückt zusammen, auf allen Ebenen: Der Redaktionsleiter einer in München erscheinenden HipHop-Publikation trifft in einem dunklen Treppenhaus eines Vororts einen Dreadlockträger in einem T-Shirt seines eigenen Magazins.

Im Studentenviertel der Stadt, das schon immer und ausgerechnet Woodstock heißt, in einem billigen kleinen Restaurant, das scheinbar mühelos italienische, griechische und südafrikanische Küche miteinander versöhnt, sagen Lolo und Dominique, beide DJs, beide HipHop-Heads, er schwarz, sie weiß, und gerade fürchterlich frisch verliebt ineinander, solche Sätze wie „Musik verbindet Menschen“, die auf Englisch entschieden charmanter klingen.

Beide meinen, Nelson Mandela, den alle für einen Helden halten, sei nur mehr „ein großer Hype“. Dann küssen sie sich, und man blickt ein wenig verschämt in die Runde. In der Kneipe feiern Schwarze, Coloureds und Weiße zu „Stayin’ Alive“ von den Bee Gees und „Celebration“ von Kool & the Gang. Es ist der einzige Ort, den man während dieser Reise zu Gesicht bekommen wird, in dem die Hautfarbe keine Rolle zu spielen scheint.

Lolo und Dominique haben ihren Kuss beendet und geben ihre Meinung kund, dass der Übergang ins neue, demokratische Südafrika bislang zwar überraschend friedlich verlaufen sei, dieser aber garantiert nicht mehr lange so gewaltlos bleiben würde. Tatsächlich sind die Morde an einsam lebenden weißen Farmern ein großes Thema in den Medien. Auch in den Städten verbunkern sich die besitzenden Rassen mit Stahltüren, Sicherheitsdiensten und Alarmtechnik. Im Vergleich zu Pretoria oder Johannesburg wirkt Kapstadt wie eine glückliche Insel.

Die zwei Wochen sind vorbei. Die Klassenfahrt der Rhythmuskellner geht zu Ende, die Academy feiert Abschied im Deluxe. Das blütenweiße Stammpublikum, Möchtegernmodels und ihre fitnessstudiogepflegten Freunde, blickt einen Drink lang blasiert durch den Raum und räumt schnell wieder das Feld. Der einzige Schwarze ist für das Wegräumen der Gläser zuständig.

Längst ist der Blick auf solche Details geeicht. Townships wie Mitchell’s Plain oder Guguletu sind gerade mal eine halbe Autostunde entfernt und könnten doch kaum weiter weg sein. Man sollte, bevor man den Kontinent wieder verlässt, unbedingt noch mal ins Snap gehen. Es wird ein letzter, langer Abend.

Patrice ist gestern wieder abgereist, zurück ins winterliche Deutschland. Musik machen, auftreten, singen. Hoch auf den Tafelberg ist er gelaufen an seinem letzten Tag, hat er erzählt, nicht mit der Seilbahn hochgefahren wie die anderen. Mit einem „One Love“ hat er sich verabschiedet von allen, und eingeschlossen in diesen aus Jamaika importierten Gruß war „One World“. Genützt hat er bislang nichts, dieser fromme Wunsch.

THOMAS WINKLER, Jahrgang 1965, taz-Autor seit 1987, lebt in Oranienburg bei Berlin. Er war frustrierter Plattenaufleger auf Privatpartys, lange bevor es cool wurde, DJ zu sein