Ritual als Fortschritt

Von der Mühsal, den Eurozentrismus zu überwinden: Honne Dohrmann, Kurator des Kampnagel-Festivals „Polyzentral“, über eine Gratwanderung

Interview: PETRA SCHELLEN

Über die Frage, wie sich Peripherie von Provinz unterscheidet, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Schwer auch zu definieren, ob Randbezirke eher Impulse oder Traditionelles produzieren – und mit welchem Recht sich Zentren als solche definieren. Kampnagel-Intendantin Gordana Vnuk wird es daher nicht müde, sich dem eurozentristischem Blick entgegenzustemmen und die Existenz verschiedener gleichberechtigter Zentren in Betracht zu ziehen. Polyzentral hat sie den am Donnerstag startenden Themenblock genannt, der Produktionen aus Kap Verde, Ungarn, Tunesien, Kenia, Mosambik, dem Libanon und Bulgarien präsentiert. Honne Dohrmann, Leiter des Festivals Tanz Bremen, hat die Reihe kuratiert.

taz hamburg: Was eint diese auf den ersten Blick disparat erscheinenden Produktionen?

Honne Dohrmann: Es sind alles Produktionen, die kulturelle Wurzeln zur Identitätsfindung heranziehen und zugleich den Blick in die Welt öffnen. In vielen dieser Länder herrscht eine starke Bindung an die Tradition, und gleichzeitig schauen die Menschen MTV. Die Folge ist ein Werteverfall, der mit der Entstehung neuer Werte einhergeht. Und genau dies ist die Spannung, die mich interessiert.

Ist die Zerrissenheit zwischen Tradition und Moderne – etwa in Afrika – nicht ein europäisches Klischee, das dazu dient, den Mythos von der eigenen Fortschrittlichkeit aufrechtzuerhalten?

Nein, das glaube ich nicht. Zwar habe ich – dies gab der Etat nicht her – nicht all diese Länder bereist. In vielen von ihnen aber herrscht tatsächlich eine Spannung zwischen Tradition und Mobilität, die z. B. durch Auswanderung ihren Ausdruck findet.

Spiegeln die Produktionen eine nicht-statische Bindung an Tradition, von der Europa etwas lernen kann?

Ich glaube schon. Tatsache ist jedenfalls, dass es – etwa in Afrika – oft ein viel breiteres Spektrum an Komponenten gibt, aus dem sich das Selbstverständnis definiert. Der historische Zugang zur eigenen Identität ist dort stärker, und davon können wir durchaus lernen. Denn in Europa beobachte ich derzeit eine Suche der jungen Generation nach dem, was überhaupt noch berührt. Ein Gedanke, für den das tunesische Ensemble El Teatro keine Zeit hat; diese Künstler sind froh, wenn ihre Stücke die Zensur überstehen.

Könnte es aber nicht sein, dass die Themen der Polyzentral-Produktionen – Tunesien karikiert das politische System, Kap Verde handelt von Auswanderung und Heimweh – den gesettelten Europäer nicht berühren?

Genau hier zu vermitteln ist unser Anliegen. Deshalb werden wir jeder Aufführung den Kontext des Ensembles in seinem Land voranstellen, um den Rahmen abzustecken.

Wie steht es aber mit Themen wie dem Heimweh der Ausgewanderten: Befürchten Sie nicht, dass der Europäer dies für Exotismus hält und allenfalls ein Quäntchen distanzierten Mitleids opfert?

Auch bei dem – hierzulande schon fast peinlichen – Thema Heimweh, sehe ich einen Impuls: Ist es nicht Zeit für Europa, diesen Begriff zurückzuerobern? Und sollte man nicht prüfen, ob echter Fortschritt nicht eher im Zurückgehen liegt, im Sich-Zeit-Nehmen, im Respekt vor fremden Ausdrucksformen?

Wie sind Sie bei Ihrer eigenen Auswahl dem eurozentristischen Blick entronnen?

Ganz frei bin ich natürlich nicht davon. Ich habe mich auch gefragt, ob ich z. B. die mosambikanische Produktion Alma Txina einladen soll – ein 2002 begonnenes Projekt, in dessen Verlauf europäische Choreographen mit Tänzern vor Ort arbeiteten. Die Resultate tragen eine deutlich europäische Handschrift. Ist der „pure“ Stil hier nicht schon verfälscht, habe ich mich gefragt. Letztlich aber liegt auch solchen Gedanken die Fiktion zugrunde, es gäbe irgendwo etwas Abgetrenntes, das ohne Impulse auskommt, und man müsse das auch so „pur“ präsentieren. Deshalb habe ich mich schließlich doch entschieden, dieses Beispiel gelungener Kooperation vorzustellen.

Dieser Konflikt erinnert an die auch im Programm formulierte Angst, folkloristisch zu werden. Worauf gründet sie sich? Auf des Europäers Sorge, angesichts von Mischformen keine tauglichen Bewertungskategorien mehr zu haben?

Mit Folklore meine ich die entseelte, Floskel gewordene Form. Das heißt aber nicht, dass die Inszenierungen keine rituellen Elemente enthielten. Das bulgarische „Theatre of the Naked Snail“ etwa bedient sich eines Hochzeitsrituals. Worum es mir aber letztlich geht, ist, bei uns in Europa Impulse zu geben. Denn die Globalisierung, die formale Angleichung auch künstlerischer Ausdrucksformen hat oft in Sackgassen geführt. Und die Rede von der Regionalisierung als Antwort darauf ist ja nicht neu. Neu könnte aber die Mixtur sein: Die Begegnung Europas mit noch nicht so arrivierten Ensembles anderer Kontinente und die Begegnung dieser Ensembles untereinander. Mittelfristig vielleicht ein sich zur Förderung anbietendes Projekt, das den Verdacht des Eurozentrismus von vornherein ausschließt.