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Archiv-Artikel

Der finale Hammer

Hannover 96 spielt die potenziellen Abstiegsbegleiter aus Leverkusen noch schwindliger und verliert trotzdem 1:2

HANNOVER taz ■ Hätte sich ein Autor die Dramaturgie dieses Spiels ausgedacht, man hätte den Plot als „ziemlich weit hergeholt“ bezeichnet: „Das gibt’s doch nur im Film.“ Eben nicht. Noch immer stimmt der banale Satz, dass die Realität seltsamer ist als jede Fiktion. Ähnliches muss 96-Trainer Ralf Rangnick im Sinn gehabt haben, als er nach der plötzlichen 1:2-Niederlage meinte: „Ich muss mich nachher noch mal zwicken, ob das hier heute wirklich stattgefunden hat.“

Eine Hauptrolle in dem kuriosen Stück spielte Jan Simak, die Nummer 8 bei Leverkusen. Nach der Entlassung Klaus Toppmöllers, der sich vehement für seine Verpflichtung eingesetzt hatte, könne er endlich frei aufspielen, wurde er in der vergangenen Woche zitiert. Der oft genialische Simak war mit achtzehn Toren maßgeblich am Aufstieg der 96er beteiligt gewesen und nach einem affentheaterhaften Hin und Her schließlich im Sommer für viel Geld zu Bayer gewechselt. In Hannover nun begleiteten jeden seiner Ballkontakte die üblichen Pfiffe, wie man sie aber in dieser Lautstärke und Permanenz selten hört. Und er war oft am Ball, wenn auch – wie die gesamte Leverkusener Mannschaft – eher unbeholfen, verunsichert, debakulös, „grottig“ (R. Calmund). Die Pfiffe waren nicht die einzige akustische Untermalung. Einige Zuschauer in der Kurve hatten sich bis zu „Simak ist ein Hurensohn“ verstiegen. Etwas weniger beleidigend intonierte man zudem das beliebte „2. Liga – Bayer ist dabei“. Zumindest auf diese Idee konnte man kommen.

Simak war es, der den allerersten Torschuss der Leverkusener abgab. Fünf Minuten vor der Halbzeit war das mehr als ein Indiz, es war ein Symptom. Bayer präsentierte sich, als ob man sich das Absteigerzertifikat möglichst frühzeitig in der Saison sichern wollte. Die Gastgeber wiederum – in deren Anfangself übrigens nur drei Spieler standen, die auch in der Aufstiegssaison dabei gewesen waren – kombinierten munter und zielstrebig, hatten etliche Chancen von der Sorte, die man als hundertprozentige quantifiziert. Aber nur Popescu, der 114-fache rumänische Nationalspieler, traf nach einer Viertelstunde mit einem elegant gezirkelten Fernschuss.

In der Pause, enthüllte Leverkusens neuer Trainer Thomas Hörster später, habe er „die Jungs“ gefragt, ob sie so weitermachen wollten oder „volles Risiko“ gehen, und Hanno Balitzsch wählte nur etwas andere Worte, als er das Kabinengespräch rekapitulierte. Die Mannschaft habe sich gesagt: „Entweder wir gehen hier mit fliegenden Fahnen unter oder reißen es noch rum.“

Also wurde der Viererkette mit Placente ein Element genommen, dafür kam Neuville. Von „vollem Risiko“ konnte dennoch keine Rede sein, von „fliegenden Fahnen“ auch nicht, da Leverkusens Spiel nach vorne eigentlich nicht besser wurde. Und hinten brannte es regelmäßig, allein schon deshalb, weil offenbar jeder von Butts Kollegen Rückpässe zu ihm vermied. Auch die 96er behielten ihre Strategie bei: Dominanz übers ganze Feld und Herausspielen von Chancen, die man dann großzügig vergab. Schock Nummer eins folgte zehn Minuten vor Schluss. Babic setzte sich unversehens links durch und Schoof, der Mann mit der 57, der höchsten Rückennummer aller Zeiten, spitzelte die Flanke halbakrobatisch ins Tor.

Auf die Gefahr hin, sich zu wiederholen: Schon ein Unentschieden wäre nach so einem Spielverlauf eine maßlose Enttäuschung für 96 gewesen, aber es wartete auf die beinahe paralysierten Fans noch der finale Hammer. Die Nachspielzeit war angebrochen, Neuville trickste flink durch die Mitte, der Ball fand Simak an der Strafraumgrenze, und geradezu genießerisch verwandelte er zum 2:1 für Leverkusen.

Wenn auch im Grunde trotzdem nichts bei Leverkusen funktioniert hatte, die Calmund’sche Schwatzroutine tat es: „Wir müssen jetzt ’n Telegramm an den lieben Gott und an ’nen Papst schicken“, quallte er, „dass wir hier das Spiel gewonnen haben.“ Sollte es von höchster Stelle eine Antwort geben, stünde vielleicht darin: „Nicht ich war’s, sondern der Terminplan. Denn wer tief in der Krise steckt, kann nur hoffen, möglichst bald ein Auswärtsspiel gegen Hannover 96 zu haben. Dort ist einem das Glück hold.“

DIETRICH ZUR NEDDEN