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Archiv-Artikel

Normalzeit HELMUT HÖGE über Vögel im Aufwind

All Labelling is lethal

Viele Anwohner zwischen Checkpoint Charlie und der Kreuzung Kochstraße schauen immer mal wieder im „Was fliegt denn da?“ nach – um herauszufinden, was denn da seit 1990 über ihren Köpfen fliegt. Mancher fragt auch die Nachbarn: Es ist ein Schwarm von einigen hundert kleinen, schwarzen Vögeln – augenscheinlich von der Aerodynamik um das IBA-Gebäude an der Ecke angezogen, in dem sich die Kantine des „Mauer-Museums“ sowie behindertengerechte Sozialwohnungen befinden.

Bei ihren Schwarmformationen scheinen diese Vögel die Ei- bzw. Kugelform zu schätzen, die sie beim Wenden ins Ellipsoide drücken und beim Auf- und Abstürzen ins Doppelspiralige drehen. Das sieht aber vielleicht von unten nur so aus. Einige Hobbyornithologen tippen auf Stare, geben aber selbst zu bedenken, dass die Strichvögel bei diesen Frosttemperaturen eigentlich weiter nach Südwesten ausweichen. Für Krähen sehen die Vögel im Schwarm zu klein aus, auch schwirren sie zu sehr. Für Spatzen sind sie zu diszipliniert.

Überhaupt hat man den Eindruck, dass sie dort am ehemaligen Alliierten-Grenzübergang ihre Flüge im Pulk seit Jahren wenn nicht endlos üben, dann nur noch als Sehenswürdigkeit vorführen – und nicht, um sich für Fernflüge fit zu machen.

Ansonsten wird diese politische Systemsollbruchstelle immer mehr zu einer Absurdzone: Erst dieser komische Grenzübergang mit Panzern in der Tiefgarage und dem Mauermuseum vis-à-vis, wo sich zu DDR-Zeiten alle Rechten, Irren, Spione, Wichtigtuer und IMs trafen, wie der Number-One-Fluchthelfer Wolfgang Welsch meint, der selbst dazugehörte. Dann der mit großem US-Tamtam inszenierte Bau des Checkpoint-Charlie-Businesscenters, dem erst das Hochhaus und dann die Westflügel-Bebauung des Platzes gekappt wurde, woraufhin sich dort eine Multikulti-Budenstadt breit machte, die das antisowjetische Souvenir-Elend des Mauermuseums nun zu einer ganzen Meile ausdehnt.

Gleichzeitig wurden sukzessive die einstigen Grenz-Attribute – wie Wachhäuschen und Sandsäcke – wieder hingestellt. Denn auch nach der glücklichen Wiedervereinigung ließen die Berlin-Reisenden aus dem Westen nicht vom Mauertourismus ab. Größter Beliebtheit erfreuen sich – vor allem bei angelsächsischen Reisenden – auch noch die Hinterlassenschaften des größten deutschen Staatsmannes Hitler.

Es gibt sogar eine spezielle Stadtrundfahrt für sie, auf der Fragen beantwortet werden wie: „Wo lebte Himmlers Friseur?“ oder „Gibt es Adolfs Schuster noch?“. Im Gegensatz dazu stehen die vielen Bundeswehr-Berlin-Reisenden. Hierbei wird den Cityguides von den verantwortlichen Offizieren jedesmal eingeschärft: „Bloß nichts Nationalsozialistisches“ zu zeigen. Höchstens, dass sie am Rosa-Luxemburg-Platz sagen dürfen, dass es sich dabei um eine furiose Regisseurin aus der Nazizeit handelte, die später sehr umstritten war.

Neuerdings stehen am Checkpoint Charlie auch noch zwei unglücklich aussehende Topmodels in DDR-Uniformen herum: eine Investition in die Zukunft, um die Fotografierkulisse zu perfektionieren. Drumherum gibt es einen italienischen Schnellimbiss, ein argentinisch-aramäisches Steakhaus, das vornehme Architektenrestaurant Sale e Tabacchi im Rudi-Dutschke-Haus, ferner die Europazentrale des russischen Gaspromkonzerns, ein Altersheim, ein Aldi (der Penny heißt), Ausländerpolizei, Einwohnermeldeamt und Arbeitsamt. Letzteres immer noch mit einem riesigen Reichsadler obendrauf.

Und während im Nordwesten auf den Ruinen des Gestapo-Hauptquartiers im Schneckentempo ein Antifa-Forschungszentrum errichtet wird, hat sich im Südosten der Springer-Verlag schnell in einen ganzen Antikom-Komplex verwandelt.

Das sind sozusagen die Knackpunkte, zwischen denen der wendige Vogelschwarm seit 13 Jahren die Lufthoheit behauptet. So mancher Developer sieht darin ein gutes Zeichen. Auch die Ornithologen: In Berlin leben inzwischen mehr Vögel pro Quadratmeter als in anderen Großstädten und sogar in Naturschutzgebieten. Es gibt eine regelrechte „Landflucht“ unter ihnen: Krähen, Dohlen, Elstern, Stare, Drosseln und Bachstelzen bilden hier allabendlich große Schwärme. Die Schwalben haben ein Nistzentrum am Schiffbauerdamm und die Turmfalken im Märkischen Viertel. „Die Stadt ist warm, schneearm, bietet Abfälle zum Fressen, Kunstlicht in kurzen Wintertagen, sowie Masten, Bäume und Häuser als übersichtliche Sitzplätze“, schreibt ihre Gewerkschaft Nabu.