BARBARA BOLLWAHN über ROTKÄPPCHEN : Mit 26 PS in den Westen – Wahnsinn!
Trabis sterben aus. Nur eines wird für immer bleiben: das tapfere Knattern eines Flucht-Trabants
Nichts ist von Dauer. So ist es nicht verwunderlich, dass auf den Straßen des wiedervereinigte Deutschlands immer weniger Autos aus der DDR zu sehen sind. Der Trabant zum Beispiel, die sozialistische Rennpappe aus Duroplast aus dem VEB Sachsenring Zwickau. Nach Angaben des Kraftfahrzeugbundesamtes in Flensburg waren zur Wende noch rund eine Million zugelassen, mittlerweile sind es weniger als 100.000. Es würde mich brennend interessieren, ob darunter der Trabi ist, der mich nach dem Mauerfall nach Westberlin gebracht hat. Mit 26 PS in die BRD, der helle Wahnsinn.
Eigentlich wollte ich mich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 1989 mit dem Zug aus dem Staub machen. Doch auf dem Leipziger Hauptbahnhof herrschte Chaos. Die Züge nach Berlin waren bereits beim Einfahren brechend voll, und die, die drin waren, hielten die Türen zu. Über Nacht hatte die Ellenbogengesellschaft Einzug gehalten. Nun hätte ich am nächsten Tag mein Glück probieren können. Aber ich hatte eine einmalige Ausreise beantragt. Und die war verbunden mit einem konkreten Datum. Bis zum 11. November musste ich weg sein. Keine Ahnung, was passiert wäre, wenn ich länger geblieben wäre. Weil ich es aber sowieso keine Minute länger ausgehalten hätte, ging ich zum Taxistand vorm Hauptbahnhof. Taxi nach Berlin statt Taxi nach Paris.
Ich bot 50 DDR-Mark. Für damalige Verhältnisse ein guter Preis. Doch zu meiner Überraschung entpuppten sich viele Taxifahrer als Wendegewinner. In breitestem Sächsisch teilten sie mir, einer nach dem anderen, mit, dass sie dafür gerade mal bis zum Stadtrand fahren würden.
Da ich aber ein bisschen weiter weg wollte und in meinem Reisegepäck eine stattliche Summe Westgeld hatte, das ich nebenher im Osten verdient hatte, passte ich meine Taktik den Gegebenheiten an. Ich ging zu einem anderen Taxistand. Dort war Schichtwechsel und die Fahrer saßen in der Kantine und tranken Kaffee. Ich stellte mich in die Mitte des Raumes und fragte mit lauter Stimme, ob mich jemand für 50 Westmark nach Westberlin fährt. Die Männer guckten nicht mal von ihrem Kaffee auf. Schließlich kratzte sich einer am Kopf und sagte müde: „Für einhundert fahr ich dich, mein Mädchen.“ Okay, das war mein Mann.
Ich hab vergessen, ob er ein Wolga- oder Tatrataxi fuhr. Das ist auch egal. Denn kaum hatten wir die Kantine verlassen, sagte er: „Wir fahren aber mit meinem Privatwagen.“ Gesagt, getan. Wir fuhren mit seinem Taxi zu ihm nach Hause. Seine Frau machte uns eine Thermoskanne mit Kaffee und belegte Brote. Mittlerweile war es drei Uhr in der Nacht. Er holte seinen Wagen, einen Trabi, aus der Garage und wir fuhren los.
Die Autobahnen waren voll. In vielen Wartburgs und Trabis waren Schilder „Wir kommen zurück“. Ich verstand mich prima mit dem Taxifahrer. Wir redeten darüber, was alles falsch gemacht wurde im Osten. Während er mich Richtung Westen kutschierte, reichte ich ihm Kaffee und belegte Brote. Sobald er eine Hand frei hatte, schlug er mir aufs Knie und sagte immer wieder: „Mensch, bleib hier. Solche wie dich brauchen wir!“ Doch ich wollte nicht bleiben.
Gegen sechs Uhr morgens erreichten wir den Grenzübergang Drei Linden. Dem Trabi war das Benzin ausgegangen. An der Zapfsäule neben uns stand ein stattlicher Mercedes. Der Fahrer beäugte unser Gefährt fasziniert und fragte höflich, ob er mit seiner Videokamera mal unter die Motorhaube gucken dürfe. Durfte er. Dann ging’s weiter Richtung Zentrum. Da ich nicht wusste, wo die Straße der Freundin ist, bei der ich unterkommen wollte, ließ ich mich an der Gedächtniskirche absetzen.
Gerne hätte ich den Taxifahrer zum Frühstück eingeladen. Doch für ihn ging das Leben wie gehabt weiter, Mauerfall hin oder her. „Danke, meine Kleene“, sagte er. „Ich muss zurück. Meine Schicht fängt bald an.“ Er setzte sich in seinen Trabi und fuhr zurück. Ich winkte ihm nach. Auch wenn irgendwann kein einziger Trabi mehr unterwegs ist, werde ich das tapfere Knattern des kleinen Zweitakters nie vergessen.
Trabi, bitte melde dich! kolumne@taz.de Morgen: Dieter Baumann über LAUFEN