: Die FDP hat den Liberalismus amputiert, sagt Gerhart Baum
Unter Westerwelle ist die FDP zur Wirtschaftslobby verkümmert. Das ist politisch falsch – und auch noch erfolglos
taz: Laut aktuellen Umfragen liegt die FDP bei fünf Prozent. Was macht sie falsch?
Gerhart Baum: Umfragen sind noch keine Wahlen. Dennoch – Liberalismus ist ein umfassendes Politikkonzept. Er muss, wie früher oft, für intellektuellen Aufbruch stehen. Tatsächlich werden aber von der FDP derzeit ganze Bereiche ausgeblendet. Die FDP vertritt einen amputierten Liberalismus.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Innen- und Rechtspolitik. Die Liberalen müssten gerade in Zeiten terroristischer Bedrohung wieder Hüter des liberalen Rechtsstaats werden. Warum positionieren sie sich angesichts der in der Koalition von Schily ausgebremsten Grünen nicht konsequent als Antipoden zu Schily und Beckstein? Wo bleibt die Kritik an den Wucherungen eines Staates, der zunehmend unverdächtige Bürger durch zweifelhafte Praktiken der Videoüberwachung und ausufernde Datensammlungen in ihrer Freiheit beschneidet? Die FDP sollte ein neues Datenschutzrecht initiieren, das die Privatsphäre der Bürger gegen neue Bedrohungen und die Gesellschaft gegen die Bedrohung der Globalisierung schützt. Helmut Schmidt hat Recht, wenn er von dem „massenpsychologischen Einfluss“ in den Händen weniger warnt, die den globalen Daten und Nachrichtentransfer kontrollieren.
Warum verfolgt die FDP keine aktive Bürgerrechtspolitik?
Sie scheut offenbar die Konflikte, die damit verbunden sind. Dabei wäre der Verzicht auf Populismus ein liberales Markenzeichen.
Die Partei setzt auf Wirtschafts- und Steuerpolitik …
Ja, da hat die FDP als erste Partei vieles angestoßen, doch ihre Kompetenz leidet unter Klientelpolitik. Ich vermisse auch eine ethische Dimension. Die Forderung „Leistung muss sich wieder lohnen“ darf nicht die Erkenntnis verdrängen: Eigennutz bedeutet noch nicht allgemeines Wohl. Es müssen neue Konzepte für wirtschaftliches und soziales Engagement entwickelt werden. Auswüchse einer raubkapitalistischen Selbstbedienungsmentalität müssen beim Namen genannt werden. Den Begriff der sozialen Gerechtigkeit durch den Begriff der Fairness, so wie ihn Westerwelle interpretiert, zu ersetzen, suggeriert eine Abkehr von den unverzichtbaren sozialen Komponenten der Marktwirtschaft. Das ist falsch. Neben der Leistungsgerechtigkeit muss es nach wie vor Verteilungsgerechtigkeit geben. Das ist nicht Gleichmacherei! Nur dann ist der Umbau der Systeme glaubwürdig. Auch fehlt die liberale Handschrift in der von Einsparungen bedrohten Kulturpolitik.
Die FDP hat ihre wirtschaftsliberale Agenda durchgesetzt. Auch die SPD betreibt den Umbau des Staates. Ist die FDP Opfer ihres Erfolges?
Die Gefahr besteht in der Tat. Wenn die FDP nicht auf allen politischen Feldern ihre liberalen Grundüberzeugungen gleichermaßen deutlich vertritt, verfehlt sie ihre Existenzberechtigung. Jetzt wird die FDP einseitig als Einthemenpartei, als Wirtschaftspartei, wahrgenommen. Ihre Kritik an Auswucherungen der Staatstätigkeit ist richtig, aber die FDP verfällt in das andere Extrem, dem Staat unverzichtbare Gestaltungsaufgaben abzusprechen, zum Beispiel in der Frage der Pflegeversicherung. Sie vernachlässigt alle anderen Themen – auch die Zuwanderung, wo sie eine Pilotfunktion hatte.
Will sagen: Die FDP hat ein Führungsproblem?
Es ist jedenfalls notwendig, dass die FDP wieder kritische Geister auch außerhalb der Partei motivieren kann, Diskurse über liberale Politik zu führen.
Finden Sie, dass der Westen richtig auf die terroristische Bedrohung reagiert? Es gibt ja, siehe Libyen, positive Zeichen.
Der Westen muss stärker die Menschenrechte zur Geltung bringen und Einfluss auf die inneren Verhältnisse nehmen. Es ist ein Vorurteil zu glauben, Islam und Demokratie seien nicht vereinbar. Wir müssen zu Verbündeten der nach Freiheit drängenden Teile der Zivilgesellschaft in den arabischen Ländern werden. Sonst bleibt auch die Forderung nach der Demokratie im Irak eine Floskel.
Und eine Menschenrechtspolitik kann autoritären Regimen gegenüber erfolgreich sein?
Ja. Libyen zeigt doch, dass auch autoritäre Staaten ein Interesse haben, international akzeptiert zu werden. Sie wollen von Wirtschaftssanktionen verschont bleiben, und sie wünschen Entwicklungshilfe. Der Westen hat ein Druckpotenzial. Er muss es nutzen und auch helfen, Armut, Aids und Analphabetismus zu überwinden – einfühlsam, nicht überlegen und arrogant. Innenpolitisch die Verteidigung des Rechtsstaats, außenpolitisch Menschenrechtsorientierung – das wäre liberale Politik.
INTERVIEW: WILFRIED URBE