: Die Kunst des Nichtstuns
Aufstehen, hinsetzen, liegen, nichts tun: Die Alexander-Technik führt Menschen in eine gesunde Körperhaltung und lässt sie schädliche Gewohnheiten überwinden. Das lindert Rückenschmerzen, Stottern, nervöse Ticks und Lampenfieber
Die Alexander-Technik kann chronische Rückenschmerzen langfristig bessern. Die Übungen wirken besser als zum Beispiel Massagen, haben Wissenschaftler der Universitäten Southampton und Bristol kürzlich in einer vergleichenden Studie herausgefunden. Die Forscher untersuchten knapp 580 Patienten mit chronischen oder immer wiederkehrenden Rückenschmerzen und teilten diese in drei Gruppen ein. Die eine erhielt sechs konventionelle therapeutische Massagen, die andere sechs, die dritte 24 Unterrichtsstunden in Alexander-Technik. Jeweils die Hälfte der Teilnehmer in den drei Gruppen absolvierte zusätzlich ein Fitnessprogramm, das zum Beispiel aus täglich 30 Minuten zügigem Gehen bestand. Ein Jahr nach der Behandlung zeigte sich: Die sportlichen Übungen hatten keinen wesentlichen Einfluss auf die Beschwerden der Patienten, wohl aber die Alexander-Technik. Die damit Behandelten gaben an, dass ihre Kreuzschmerzen deutlich nachgelassen hätten, berichten die Forscher im British Medical Journal. MJ
VON KIRSTEN NIEMANN
Zu Hause wundert sich inzwischen niemand mehr über den Anblick: Einmal am Tag legt sich Georg Neumann auf den Fußboden. Unter den Kopf einen Stapel Bücher geklemmt, die Beine aufgestellt, die Hände auf dem Bauch verschränkt. Arme, Beine, Schultern – alles ganz locker. Neumann horcht in sich hinein. Spürt, dass die Arme von den Schultern bis in die Fingerspitzen reichen, die Beine an den Zehen enden. Er fühlt, wie sich beim Atmen die Bauchdecke hebt und wieder senkt, wie die Schulterblätter schwer den Boden berühren. Die Anspannung weicht aus seinem Körper, der Atem fließt. Eigentlich hat der IT-Berater zurzeit viel um die Ohren. Aber in diesen zehn Minuten ist alles ganz einfach: das Telefonat vor wenigen Minuten, der Geschäftstermin in einer Stunde – weit, weit weg.
Dieses Auf-dem-Boden-Liegen wirkt etwas seltsam auf den Betrachter, hat aber einen Sinn. Es ist eine Übung aus der Alexander-Technik, die unter ganzheitlich orientierten Therapeuten und in kreativen Kreisen schon seit etwa 70 Jahren ein Begriff ist. Benannt wurde sie nach ihrem Entdecker, dem australischen Schauspieler Frederick Matthias Alexander (1869–1955). Als ihm immer öfter die Stimme versagte, waren die Ärzte ratlos. Also versuchte er, dem Problem selbst auf die Spur zu kommen. Nach monatelangen Selbstbeobachtungen vor dem Spiegel hatte er erkannt, dass er seinen Kopf beim Rezitieren auf eine Weise neigte, die auf den Kehlkopf drückte. Ihm war nie zuvor aufgefallen, dass er das tat. Und schlimmer: Es fiel ihm schwer, das bleiben zu lassen. Er entwickelte eine Methode, die ihm half, sich dieses offensichtlich schädliche Verhalten abzugewöhnen.
Aufstehen, hinsetzen, liegen. Nichts tun. Es sind immer dieselben Abläufe, die geübt werden. Das Bild einer Alexander-Sitzung ist also denkbar unspektakulär: Der Klient liegt auf einem Behandlungstisch, während der Trainer mit seinen Händen Verspannungen aufspürt, wo der Klient niemals welche vermuten würde. Die gleiche Prozedur beim Hinsetzen. Was macht Ihr Kopf, wenn Sie sich auf einen Stuhl setzen? Keine Ahnung? Nichts? Oft sinkt er in den Nacken oder auf die Brust, soll er aber nicht. Aus der Sicherheit heraus, vermittelt durch den Bodenkontakt und die unterstützende Berührung des Alexander-Trainers, bekommt der Mensch ein Gespür für das richtige Körperverhalten. „Die physische und die psychische Ebene sind miteinander verwoben“, sagt Valentina Bordenave, Lehrerin für Choreografie, Tanz und Alexander-Technik an der Universität der Künste in Berlin. Die 38-Jährige vergleicht den Lernprozess der Alexander-Technik mit einer Säuberungsaktion für Körper und Geist.
Viele darstellende Künstler wenden das Verfahren an, um ihre Leistung zu steigern. In vielen Schauspielschulen ist die Technik bereits fester Bestandteil des Lehrplans. Übrigens praktiziert auch der Sänger Sting die Alexander-Technik, ebenso Ex-Beatle Paul McCartney.
Doch die Alexander-Technik ist nicht nur eine gute Schulung für Kreative und darstellende Künstler. „Zu meinen Einzelstunden kommen Menschen mit körperlichen Beschwerden wie Bandscheibenschäden, Atemproblemen, Stottern. Die Alexander-Technik hilft auch bei nervösem Tic“, sagt Bordenave. Schon nach einem halben Jahr gebe es deutliche Verbesserungen. Die Technik rückt Rückenschmerzen zu Leibe und knipst Migräne aus. Sie macht eine krumme Wirbelsäule gerade und den Kopf frei. Sie wirkt bei stressbedingten Krankheiten, gegen Arthritis und Parkinson. Sie hilft, Lampenfieber in den Griff zu bekommen, und macht souverän. Etwa 25 bis 50 Euro kostet eine Sitzung. Die Krankenkassen zahlen die Behandlung nicht.
„Das Wesentliche ist, dass es in der Alexander-Technik nicht darum geht, mithilfe von Übungen etwas besser zu machen“, sagt Bordenave. „Man lernt vielmehr, etwas weniger zu machen, etwas nicht zu tun.“ Alexanders Theorie basiert auf der Annahme, dass der Mensch bereits ab seinem dritten Lebensjahr falsche Körperhaltungen und Eigenarten annimmt, die sich im Laufe seines Lebens schädlich auf das seelische und körperliche Gleichgewicht auswirken können. Die Methode hilft Menschen, sich schädliche Muster abzugewöhnen, ohne in neue schlechte Gewohnheiten zu verfallen. Tückisch ist, dass der Mensch gar nicht weiß, was ihm schadet. Der Körper suggeriert ihm nach jahrelangem falschem Gebrauch das Gegenteil. Wer sich am Schreibtisch bewusst gerade hinsetzt, um eine gebeugte Haltung am Computer zu vermeiden, verkrampft an anderen Stellen. Das Problem: Die Gewohnheit überrumpelt das Gehirn. Vieles macht man gar nicht bewusst: etwa bei hektischem Autoverkehr die Kiefer aufeinanderpressen oder den Kopf einziehen, wenn es brenzlig wird.
Der Berliner IT-Berater Neumann begann sein Alexander-Training, weil er als Hobbygitarrist nicht weiterkam. „Vor den Auftritten war ich so nervös, ich wusste nicht, wie ich meine Nerven in den Griff kriegen sollte“, sagt der 39-Jährige. „Die größte Veränderung habe ich jedoch im Berufsleben bemerkt“, resümiert Neumann. Präsentationen vor hundert Menschen machen ihm nichts mehr aus. Natürlich ist er nervös. Aber er hat gelernt, dass es ihm hilft, aufrecht zum Rednerpult zu gehen. Beim Sprechen legt er nun einfach mal eine Pause ein. Im größten Stress findet er Ruhe: innehalten, durchatmen – und aus jeder Situation das Beste machen.
Alexander-Lehrer in Ihrer Nähe: www.alexander-technik.org