: Spiel, Satzbau, Sieg
Wenn sich am Rand des Tennisplatzes die Fleischlichkeit mit Poesie verklärt: In seinem neuen Roman „Schöne Freunde“ untersucht Arno Geiger aus der Perspektive eines reichlich verschrobenen Kindes die Semantik des Erwachsenenlebens. Der geheimnisvollste aller Sätze bleibt auch hier „Ich liebe dich“
von GUSTAV MECHLENBURG
In einer der vielen verstreuten Anekdoten, aus denen Arno Geigers Roman „Schöne Freunde“ in weiten Teilen besteht, füttert der etwas sonderliche Erzähler Carlo Kovacs Eidechsen mit Insektenflügeln, damit auch ihnen Flügel wachsen. Kinder haben in den Augen Erwachsener oft magische Vorstellungen, doch Magie ist eine Frage der Perspektive: Das eigentlich Geheimnisvolle in Geigers Buch ist nicht so sehr die mit Bedeutung aufgeladene Welt des elternlosen Jungen, sondern vielmehr die geordnete Welt der Erwachsenen. Carlo nimmt als Icherzähler inmitten einer dörflichen Idylle fasziniert an dem „Geheimwissen“ der Erwachsenen teil – er möchte dazugehören.
Geiger gibt weder Zeit noch Ort preis und präsentiert ein Szenario wie aus einem surrealistischen Film. Jeden Tag steht der Junge zusammen mit einem sprachlosen Akkordeonspieler vor dem großen Eingangstor des alles beherrschenden Bergwerks und sammelt Geldstücke für die Musik. Seine besondere Stellung, ohne Familie und ohne Freunde, prädestiniert ihn zum Insider des sozialen Gefüges und zur perfekten Vertrauensperson für geheime Liebesbotschaften.
Da er selbst gerade die Liebe zu entdecken beginnt, lässt er sich kein Rendezvous entgehen, um im Verborgenen dem geheimnisvollen Satz aller Sätze – „Ich liebe dich“ – zu lauschen. Er kennt alle Nuancen dessen, „was der Sterblichkeit einen Hauch Ewigkeit verleiht und die Fleischlichkeit mit Poesie verklärt (Ausdruck Frau Doktor Grüneisen)“.
Wissbegierig nimmt das Kind auch sonst alles auf, was ihm später „Halt, Erfolg und Glück ermöglichen“ soll: „Tennisspielen, Umgang, geistige Struktur und Satzbau“. Ständig tauchen altkluge Ausdrücke und Redeweisen, die er von den Erwachsenen übernommen hat, mit Angabe der Urheber auf. Auf diese Art wird aus Carlos Erzählung ein artifizieller Bericht. Zusätzlich stockt die Beschreibung immer wieder an den Schlüsselwörtern „einmal (was ist einmal)“ und „irgendwann (was ist irgendwann)“ oder bei der Frage: „Was gehört schon hierher? Alles gehört hierher.“
Es gilt durch die Erinnerung zu bewahren, was verloren gegangen ist. Ein Grubenunglück hat alles verändert. 43 Menschen kommen ums Leben, etliche bleiben vermisst. Das Werk wird geschlossen, und die Überlebenden, nahezu das gesamte Dorf einschließlich Carlo, begeben sich aus für den Leser nicht geklärten Gründen auf ein Schiff in eine neue, unbestimmte Heimat. Das, was dem Leben Carlos Gleichförmigkeit und Halt gab, gehört nun für immer der Vergangenheit an. „Es hatten die Sonntage gefehlt, Sonntage, sagen, dass man jemanden liebt, Ball übers Netz und Ball zurück, hin und her, Wurst- und Käseplatten, Liköre, montags wieder zur Arbeit.“
Das ganze Weltbild Carlos steht auf dem Spiel. Sein Respekt und die Erfurcht den Erwachsenen und insbesondere dem Direktor des Bergwerks gegenüber, dessen Nähe ihm bisher Sicherheit und Hoffnung gab, zerbröckeln angesichts der Jämmerlichkeit der von Trunksucht und Lethargie befallenen Vorbilder. Die Erwachsenen fallen aus ihren vertrauten Rollen. Orientierungslos bleibt ihnen einzig die in die Zukunft oder ein Nirgendwo projizierte Hoffnung, der Carlo misstrauisch gegenübersteht: „Das war ein großes und leidiges Thema: Das Andere, das nicht war oder woanders. Ich habe oft und lange zugehört, ohne klüger zu werden, und deshalb beschreibe ich jetzt das Meer, das Meer, über dem das Gesagte verflog, als wäre es nie gewesen.“
Diese abrupten Wechsel sind bei Geiger Programm. Mal mikroskopisch genau, dann wieder metaphorisch allgemein enden die Beschreibungen. Doch so kunstvoll und konsequent er dadurch das Denkuniversum seines jungen Helden durchzuhalten vermag, irgendwann fragt sich der Leser, was damit gewonnen ist.
Die Handlung ist marginal. Erzählstränge springen vor und zurück oder entbehren ganz des Zusammenhangs. Kurzbiografien und Geschichten von zu spät zur Schicht kommenden Arbeitern sind mal tiefsinnig, mal komisch und würden teils eigenständige Kurzgeschichten abgeben, teils langweilen sie aber auch einfach nur. So bleibt am Ende des Romans nicht nur Carlo ganz bei sich, nachdem er sich von seinen Mitmenschen enttäuscht abgewendet hat, sondern auch der Roman selbst. Er wirkt wie eine Allegorie ohne Bezug oder ein Lehrstück ohne Lehre.
Kritiker hatten dem österreichischen Autor bei seinem letzten Buch „Irrlichterloh“ Genialitätsgestus und inhaltliche Belanglosigkeit vorgeworfen. „Schöne Freunde“ wirkt, als hätte der Autor dieser Kritik mit einer allzu kunstvollen Geschichte entgegnen wollen. Dass es Geiger gelingt, durch seine „poetische Prosa“ ein gleichsam magisches Universum zu eröffnen, macht ihn zu einem außergewöhnlichen Schriftsteller, der sich um den Zeitgeist nicht zu scheren scheint. Worin das Anliegen seiner Literatur nun eigentlich besteht, wird jedoch auch in seinem neuen Roman nicht deutlich.
Arno Geiger: „Schöne Freunde“.Hanser, München 2002, 176 S., 15,90 €