: Marxismus der dummen Kerls
Nicht das Interesse an Öl bestimmt die Irakpolitik der US-Regierung, sondern eine imperiale Handlungslogik. Ein Plädoyer für einen aufgeklärten Antiamerikanismus
Von Antonio Gramsci stammt der hübsche Satz: „Wir alle sind heute Marxisten, irgendwie.“ Wie wahr: Ein vulgarisierter Marxismus ist zum Common Sense geworden. Dass nicht das Bewusstsein das Sein, sondern das Sein das Bewusstsein bestimmt, dieses Marx’sche Postulat ist heutzutage zu einer pausbäckigen Hermeneutik des Verdachts geronnen, die dem Gegner im Meinungsstreit gar keine Chance mehr gibt: Was immer diesem selbst als guter Grund für sein Vorgehen dünkt, „in Wirklichkeit“ ist er von etwas anderem angetrieben – vom nackten ökonomischen Interesse. In unserem Fall: Egal was die USA für Kriegsgründe anführen – eigentlich geht es ihnen ums Öl.
Ein solcher Marxismus der dummen Kerls, die glauben, den einfachen Schlüssel zu besitzen, mit dem sich alle Geheimnisse entwirren lassen, hat schon den greisen Friedrich Engels in Rage gebracht. Die Ökonomie, schrieb er in einem seiner Altersbriefe, sei „das in letzter Instanz bestimmende Moment in der Geschichte. Mehr hat weder Marx noch ich je behauptet.“ Heftig beklagt sich Engels, dass vor allem von den jüngeren der Marx-Exegeten „zuweilen mehr Gewicht auf die ökonomische Seite gelegt wird, als ihr zukommt“.
Dabei haben jene, gegen die sich Engels damals wandte, die ökonomischen Fakten noch ernst genommen, nur haben sie daraus in simpler Manier alle Geschehnisse und Verhängnisse abzuleiten versucht. Damit halten sich Kriegsgegner von heute nicht mehr auf. Für sie ist auch ohne nähere Betrachtung der Zusammenhänge klar, dass es Bush und seinen Vasallen nur um die irakischen Ölfelder geht.
Das Problem ist, dass diese Art der Amerikakritik dümmlich ist. Für eine Art aufgeklärten Antiamerikanismus gäbe es dagegen gute Gründe. Dieser muss den USA gar nicht vorwerfen, dass sie zur Hypermacht geworden sind – der Sachverhalt allein genügt, um alle Versuche zu unterstützen, auch diese unangefochtene Macht weitestmöglich in ein internationales Rechtssystem hineinzuzwingen. Denn zu den erstaunlichen Dingen in der globalen Arena zählt mittlerweile nicht nur der Umstand, dass die USA zur konkurrenzlosen Hypermacht wurden, sondern vor allem, dass sie sich als imperiale Führungsmacht, als „Neues Rom“ sehen.
Im vergangenen Jahr ist dies- und jenseits des Atlantiks das Interesse an der Antike, das bisher als Privileg der Bildungsbürger galt, schlagartig angewachsen. Neokonservative Autoren wie Max Boot, Charles Krauthammer, Robert Kagan – allesamt Berater der Bush-Administration –, aber auch liberale Denker wie Paul Kennedy und Robert D. Kaplan sehen die USA als Erben nicht nur des britischen Empire, sondern auch des Römischen Reiches. Imperien, so ihre These, sind zu gewissem Grad immer Imperien wider Willen: Schon die Römer hatten sich ihr Reich „zusammenverteidigt“, weniger aus Machtgier, mehr als Resultat von Herausforderungen – bis sie gar nicht mehr anders konnten, als zu Garanten der Stabilität ihrer geschichtlichen Welt zu werden. Das Resultat dieses Sachverhalts ist dann aber wieder ein gewisser Kriegskult, eine „Warrior Politics“, wie das Robert D. Kaplan nennt. Wie friedlich und rechtstreu die Führung des Imperiums im Innern auch sein mag, sie wird vom Gewaltprinzip immer wieder infiziert, da sie sich im permanenten Ausnahmezustand befindet und sich an der Peripherie ihres Imperiums stetig Angreifern gegenübersieht, die der erreichte Stand der transnationalen Rechtskultur keinen Deut schert.
Tatsächlich ist keineswegs gesagt, dass eine Welt mit einer imperialen Führungsmacht eine so schlechte Welt ist: „Was wäre die Alternative zur amerikanischen Dominanz?“, fragte unlängst die Hamburger Zeit: eine „multipolare Welt“ mit der Rivalität um Einflusszonen, der Unsicherheit an den Rändern und in den schwarzen Löchern, in denen die Gewalt eskaliert. Robert D. Kaplan schreibt: „Zweihundert Staaten, kombiniert mit hunderten einflussreichen nichtstaatlichen Mächten, führen zu einer Kakophonie widerstreitender Interessen, die sich nie zu einem Allgemeinen entwickeln würde ohne die organisierende Kraft eines Hegemonen.“
Wie der Berliner Politologe Herfried Münkler ausführt, muss ein solcher Hegemon eine eigene Funktionslogik und einen anderen Blick auf die Welt entwickeln als Mittelmächte wie Frankreich und Deutschland. Muss es ihnen um Herstellung einheitlicher Rechtsräume in ihrem Innern und um die Verrechtlichung im zwischenstaatlichen Verkehr gehen – weil nur das ihnen die Wahrung ihrer Interessen gegenüber dem Hegemonen garantiert –, hält die Führung des Imperiums das für einen legalistischen Blütentraum: Sie weiß, dass an den Rändern ihres Machtraums nur Gewalt zählt, und sichert die Rechtsstaatlichkeit im Innern, indem sie Zonen unterschiedlichen Rechtes schafft. In einem amerikanischen Untersuchungsgefängnis herrschen folglich andere Prinzipien als etwa in Guantanamo Bay, an dem kubanischen Küstenstreifen, wo die USA die Al-Qaida- und Taliban-Gefangenen interniert halten.
Der Hegemon spürt auch, dass er immer Gefahr läuft, seine Herrschaft zu überdehnen: Er braucht Ruhe in seinem Machtraum. Er kann sich auf Dauer nicht leisten, da Krieg zu führen, dort eine Krise zu gewärtigen und hier einen potenziellen Unruhestifter in Schach zu halten – selbst dann nicht, wenn von dem keine aktuelle Gefahr ausgeht. Der Unruhestifter muss weg, damit Kräfte für andere Aufgaben frei werden.
Der Hegemon entwickelt eine eigene Mentalität und Kriegszugeneigtheit: Für ihn zählt nur der Zweisprung „Problem – Lösung“. Ein gewisser Machbarkeitswahn ist das Resultat. Wenn Saddam Hussein und der Mangel an Demokratie im arabischen Raum als Problem erkannt wurden, dann ist „das Missionsprojekt der Demokratisierung Arabiens“ (Die Zeit) die Lösung. „Warum soll das undenkbar sein?“, fragen die machtgewissen Ideologen des Imperiums und zetern über die verweichlichten „EU-nuchen“. Amerikanische „Blauäugigkeit“, kontern die Europäer, für die die Macht des Hegemonen eine beständige Herausforderung ihrer Souveränität ist – auch wenn es sich um eine soft power wie die USA handelt, die Gefolgschaft vor allem ihrer kulturellen und ökonomischen Ausstrahlungskraft verdankt. Dieses Misstrauen reizt die Herren des Imperiums, die die Welt zunehmend als feindliche Umwelt wahrnehmen und in Vasallen und undankbare Nichtvasallen aufteilen oder, um es in der Logik von Pentagon-Chef Donald Rumsfeld zu formulieren, den alten Kontinent in das „neue und das alte Europa“ scheiden.
Der Hegemon produziert so, indem er die Welt zu „glätten“ versucht, immer neue Spaltungen – reißt sie auseinander, in die, die „für uns“ und die, die „gegen uns“ sind (George W. Bush). Er schafft sich die Konflikte zu einem gewissen Grade auch immer, die er eigentlich zu stabiliseren bemüht ist. Wenn dieses Prinzip Amerikanismus bedeutet, so ist es Gebot der Vernunft, sich ihm entgegenzustellen.
ROBERT MISIK