: Tanz auf dem Rentenvulkan
„Wohin“ mit den Alten, die einfach nicht sterben wollen, fragt Urs Dietrich in seinem neuen komisch-poetischen Tanzstück im Schauspielhaus. Die vorläufige Antwort: Zum Sitztanz ins Seniorenheim
von Jens Fischer
Ja, gar lustig ist das Rentnerleben. In unserer Gesellschaft, in der die Alten älter und die Kinder seltener werden, bevölkern gut gelaunte Senioren als Sinnbild ewiger Jugend die Skipisten, Strände, Kreuzfahrtschiffe, Golfplätze – und lassen die Begrenztheit des Lebens etwas in Vergessenheit geraten.
An die wird in Urs Dietrichs „Wohin“-Uraufführung durch Schattenbilder und eine verwischte Skelettkontur auf weiß-sterilen Wänden erinnert. Ein menschliches Lebenslicht geistert mit schwarzflammig hochtoupierten Haaren durch das grell aufgeräumte Bühnenbild: ein Seniorenheim, die Vorhölle für gewesene Tanzkünstler, vom Publikum durch einen transparenten Duschvorhang getrennt. Dahinter genießt das Ensemble den selbstironischen Spaß, sich in die Rentenzukunft hineinzuparodieren und mit den Ängsten des Verfalls zu kostümieren.
Die Körper werden in schaukelnde Landschaften des Übergewichts verwandelt. Empörend voluminöse Pobacken baumeln unter den Shorts, schwabbelig nach vorn wellende Bäuche und aufgedunsene Schenkel dehnen Rautenmusterpullover (Bild der Geschmacklosigkeit) und schäbige Trainingsanzüge (Bild der Stillosigkeit) bis an die Zerreiß-Grenze. Der zur Blondie-Schlampe transvestierte Mann, eine dem Feudelwahn erlegene Frau und die todmüde aufgeblähte Möchtegern-Pippi-Langstrumpf mit blutunterlaufenen Augen gesellen sich zum Grotesk-Ensemble. Ein Meditationsfreak präsentiert seinen Leoparden-Bademantel. Ein anderer Tänzer trotzt der Vergänglichkeit mit schwarzeneggernd aufwattiertem Oberkörper. Lächerlich gewordene Physis.
Aber der Widerspruch von absurd überzogener Verunstaltung und elegantem Ausagieren von Tanztheaterresten ist von äußerst komischem Reiz. Die Entwurzelung und Bindungslosigkeit in der mobilen Gesellschaft noch nicht ganz abgelegt, so passieren die Darsteller in Bewegungsschüben die Bühne, getrieben vom inneren Uhrwerk. Die Körpersprache des Lebensabends wirkt abgerissen, wie ferngesteuert, verliert sich in Arabesken, während sich Gestenfolgen impulsartig fortsetzen. Reminiszenzen an vergessenes Empfinden. Vornehmlich Soli in Einsamkeit werden vorgeführt. Inklusive ständiges Selbstbefingern, um verzweifelt die Restlust aus den Körpern zu kitzeln. Hinzu kommen Imponier- und verspielt-aufreizendes Kokettiergehabe. Posierend wird um entfleuchte Sexyness gerungen, bis, sekundenkurz, einige der Dicken doch zueinander finden, also plump aufeinander liegen oder auch mal eine Massage als erotischer Pas des deux feiern.
Der Clou der Aufführung aber sind die in Seniorenheimen so beliebten Sitztänze. So wie Jonathan Burrows und Matteo Fargion beim letzten Tanz Bremen-Festival, sitzend, ihre Arme filigran-komische Etüden des Alltags tanzen ließen und ein Parlando mit Händen und Fingern in die Luft zauberten, wird hier, auf Stuhl und Toilettenschüssel, mit schlapp baumelnden Extremitäten, mimischer Akrobatik und debil-juxigen Zungentänzen agiert, aber auch Urs Dietrichs Motionssprache zitiert. Etwa wenn die Bewegungen der Musik mit den Armen aufgefangen und eigenständig weiterentwickelt werden, komische Gliedmaßen-Spiele die abstrakten Sequenzen konterkarieren, sich abgezirkelte Expression aus der partiellen Unbewegtheit neu entwickelt.
Ein Kampf gegen die Stummheit des vergehenden Seins, ein gedehnter Augenblick, in dem gewartet wird, ohne so recht zu wissen worauf. Und wann endlich Schluss ist. Da die Alten einfach nicht sterben, den Tanz auf dem Rentenvulkan fortsetzen wollen, muss dann schon ein gut bewaffneter Terrorist seine mörderische Aufwartung machen.
Eine kurze, unterhaltsame, nicht unpoetische Geschichte, eine Petitesse in Dietrichs Oeuvre, ein Satyrspiel über das Warten auf den Tod. Es endet mit bleichen Blicken der Darsteller.