Kritische Justiz zwischen Aufruhr und Mainstream

Ein Relikt der 68er-Bewegung, das sich generationenübergreifend zu erneuern verstand: Die Zeitschrift „Kritische Justiz“ feierte am Wochenende ihr 40. Jubiläum

Schon bei der Gründung der Zeitschrift, die am Samstag in Frankfurt am Main ihr 40. Jubiläum feierte, war der Titel ein Fanal: Kritische Justiz (KJ). Die Anlehnung an Max Horkheimers „Traditionelle und kritische Theorie“ von 1937 war so unüberhörbar wie die Distanz zur „herrschenden Meinung“, die fortan als Meinung der Herrschenden galt.

Die Kritische Justiz ist zum Markenzeichen geworden: Sie war und ist ein generationenübergreifendes Projekt. Zur Gründung riefen der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903–1968), der Präsident des Landesarbeitsgerichts Hans G. Joachim (1919–1989) und der junge Referendar Jan Gehlsen (geb. 1940) auf. Die Zeitschrift wird von Juristen gemacht, die ihr als Redakteure oder Herausgeber wie Joachim Perels seit der Gründung oder seit kurzer Zeit danach angehören – wie Thomas Blanke, Rainer Erd, Ulrich Stascheit, Ulrich Mückenberger und Günter Frankenberg.

Es handelt sich um eines der 68er-Projekte, die überlebten. Schon die erste Nummer behandelte „Auflauf, Aufruhr und Landfriedensbruch“, also Tugenden des Nonkonformismus. Der thematische Schwerpunkt der Kritischen Justiz hat sich freilich verschoben. Damals ging es um Prozesse gegen Demonstranten und die verbrecherische Rolle großer Teile der Justiz unter dem Nationalsozialismus und deren klägliches Versagen nach 1945. Heute stehen geschlechts- und sozialspezifische Diskriminierungen, medienrechtliche und ökologische Probleme sowie sicherheitsstaatliche Übergriffe auf Grund- und Menschenrechte und andere Attacken auf die Verfassung im Vordergrund.

In der Debatte mit dem Juraprofessor Rainer Erd machte Joachim Perels deutlich, dass es der KJ von Anfang an nicht um eine Politisierung von Recht und Justiz ging, sondern darum, politische Konnotationen und politisch gewollte Wirkungen von Rechtsnormen kritisch zu analysieren und die Tradition der demokratischen Jurisprudenz der Weimarer Republik zu beleben. Die KJ beschränkte sich dabei nie auf die juristische Dogmatik, sondern mobilisierte immer auch historisch-kritischen Sachverstand aus anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, um zu verdeutlichen, in welchen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen, später auch feministischen und ökologischen Kontexten Rechtswissenschaft und Justiz agieren. Dass dieser Prozess weitergeht, dokumentiert das eben erschienene Sonderheft zum 40-jährigen Jubiläum, das transnationale Rechtsprobleme, Migrationspolitik, soziale Menschenrechte, die EU-„Verfassung“ und den Kombattantenbegriff des Völkerrechts behandelt.

Auf einem zweiten Podium diskutierten die jungen Herausgeber des Sonderhefts Sonja Buckel, Andreas Fischer-Lescano und Felix Hanschmann mit den bürgerrechtlich engagierten Anwälten Marei Pelzer und Wolfgang Kaleck über die Kritik an Sicherheitsdispositiven.

Eine gemeinsame politische Veränderungsperspektive als Erbe von 1968 gibt es nicht mehr. Die Zeitschrift hat sich politisch pluralisiert. Radikaldemokratische Konzepte traten zurück, verschwanden aber nicht völlig. Ob die Zeitschrift im juristischen Mainstream zitierfähig wurde, wie der Verleger Klaus Letzgus hofft, oder ob sie „salonunfähig“ (Felix Hanschmann) bleiben und den Anschluss an soziale Bewegungen suchen sollte, blieb umstritten.

Der Arbeitsrechtsprofessor Thomas Blanke und der Zivilrechtler Peter Derleder bewiesen in ihren Vorträgen Selbstironie und kritisierten mild den früheren Hang der KJ zu klassenkämpferischen Vereinfachungen im juristischen Diskurs. Sie stimmten aber darin überein, dass die aktuelle Krise alte linke Positionen grandios bestätigt: Ohne Staat geht es nicht. Aber „den Staat, den es braucht, gibt es immer weniger“, so Thomas Blanke, weil auch er sich der Deregulierung hingegeben und Entscheidungskompetenzen an die EU abgegeben hat. Und wie die Kreditblase ist die Bielefelder Legende von der Selbsterzeugungskraft des Rechtssystems geplatzt, womit auch die systemtheoretische Literatur dazu zu Schrott geworden ist, wie Peter Derleder eindrucksvoll demonstrierte.

Abschließend diskutierten der Bürgerrechtler Ron Steinke sowie die Professoren Günter Frankenberg und Ulrich K. Preuß mit der brillanten Verfassungsrichterin Christine Hohmann-Dennhart über den „Mythos Verfassungsgericht“. Die Richterin präsentierte sich als Schneewittchen unter den sieben Zwergen im Ersten Senat des Karlsruher Gerichts. Ulrich K.Preuß hält radikaldemokratische Positionen, wie sie das Gericht 1985 im Brokdorf-Urteil anerkannte, in der Praxis für richtig, aber theoretisch für revisionsbedürftig. Fazit für die rund hundert Teilnehmer: Abgeklärte Juristen und Juristinnen verbinden politische Einsicht, Wissenschaft und Witz zwanglos zum intellektuellen Vergnügen.

RUDOLF WALTHER