Das Herz der Kamelmutter

Wie ein Geiger ein kleines Kamel rettet: Byambasuren Davaa und Luigi Falorni erzählen in ihrem Dokumentarfilm „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ ein wahres Märchen aus der Mongolei

VON HARALD PETERS

Die Nomadenfamilie Amgaa hat ein Problem. Zwar war die Kamelkalbsaison bislang ein voller Erfolg, doch wurde eines der Kamelkälber, ein besonders schönes, weißes und gesundes Tier, nach einer schweren Geburt von seiner namentlich ungenannten Kamelkuhmutter verstoßen. Obwohl es daraufhin allein auf zitternden Beinen in den Weiten der Wüste Gobi stehen muss und dabei solch sehnsuchtsvolle Laute ausstößt, wie sie nur kleine, traurige Kamelkälber ausstoßen können, widmet sich das Muttertier lieber dem struppigen Wüstengras und würdigt seinen Nachwuchs keines Blickes. Zwar kennt der Nomadenfamilienpapa für solche Fälle gewisse Tricks, welche gemeinhin selbst störrischste und hartherzigste Kamelkühe überlisten, doch in diesem Fall hilft nicht einmal sanfte Gewalt.

Und so muss das kleine, weiße Kamel von Menschen gefüttert werden, von Menschen geherzt und gestreichelt werden, was also alles in allem keiner kamelgerechten Pflege entspricht. Ist das kleine, weiße Kamel, fragt sich die Nomadenfamilie Amgaa in Sorge um das psychische Wohlbefinden des Tiers, auf lange Sicht noch zu retten? Weil nichts unversucht bleiben darf, hofft man auf die Hilfe eines alten Rituals. Also setzt die Familie ihre Söhne auf zwei weitaus zuverlässigere Kamele, schickt sie einmal quer durch die Wüste in die nächste Stadt, wo sie Kontakt zu einem talentierten Geiger aufnehmen. Der besucht die Familie wenig später und fiedelt der Kamelmutter dann etwas auf seinem Instrument, woraufhin dem garstigen Tier vor lauter Rührung das Herz überläuft. Es weint und schließt das Kalb voller Liebe in die Arme – jedenfalls soweit das der Körperbau einer Kamelkuh zulässt.

Das Interessante an dem Film ist nun, dass man ihn für ein Märchen halten mag, dass „Die Geschichte vom weinenden Kamel“ tatsächlich aber ein Dokumentarfilm ist, der eine wahre Begebenheit erzählt. Die beiden regieführenden Münchener Filmstudenten Byambasuren Davaa und Luigi Falorni zogen nämlich zu Beginn des Jahres 2002 mit ihrem Team in die südliche Mongolei, fanden dort die Familie Amgaa und begannen, deren Alltag zu filmen. Wie man ihrem Werk deutlich ansieht, war ihnen das Schicksal offenbar bestens gesonnen. Dass sie einige Momente der Handlung, an denen die Kamera gerade nicht eingeschaltet war, mit der Familie Amgaa nachträglich in dokumentarfilmunüblicher Weise in Szene setzten mussten, haben Davaa und Falorni zugegeben, nach ihrer Aussage soll es sich dabei nur um wenige, für das Verständnis notwendige Dialoge gehandelt haben. Und so hat der Film den unwiderstehlichen Charme einer glücklichen und wunderbar beiläufigen Beobachtung: Man guckt und guckt, ohne eigentlich zu wissen warum, bis sich aus dem Gesehenen eine Handlung herausschält, die sich als eine herzerweichende Geschichte entpuppt. Der Film wird dabei mit angenehm schlichten Bildern erzählt, es wird auch nicht viel geredet, man muss einfach nur hinsehen und staunen.

„Die Geschichte vom weinenden Kamel“. Regie: Byambasuren Davaa, Luigi Falorni. Mit: Janchiv Ayurzana, Chimed Ohin, Amgaabazar Gonson u. a., Deutschland/Mongolei 2003, 91 Min.