: Indigniert in den Abgrund
Viel Klopstock, aber ohne Sex: Der englische Autor Ford Madox Ford und sein erstmals auf Deutsch veröffentlichter Roman „Manche tun es nicht“
von GERRIT BARTELS
Ein Treffen in Paris, Mitte der Zwanzigerjahre. Ernest Hemingway sitzt in einem seiner Lieblingscafés, dem „Closerie des Lilas“, als zufällig Ford Madox Ford vorbeischlendert und sich zu ihm setzt. Beide plaudern über dies und das, dann über Gentlemen, Strolche und Schufte, und schließlich fragt Hemingway, ob Ford ihn denn für einen Gentleman halte. „Bestimmt nicht“, antwortet dieser, „aber für einen vielversprechenden jungen Schriftsteller.“ Hemingway wiederum lässt dreißig Jahre später, als er dieses Treffen in seinem Erinnerungsbuch „Paris – ein Fest fürs Leben“ schildert, keinen Zweifel daran, wie unsympathisch ihm Ford war. Er bezeichnet ihn als „wandelnden, gutgekleideten und hochgestülpten Schweinskopf“, als übel riechenden Menschen und Lügner, dessen „krächzende, plumpe, widrige Gegenwart“ ihm lästig fällt.
Nun war Hemingway bekannt dafür, keine Freunde und Förderer mehr zu kennen, wenn es um seinen Vorteil und die Mehrung eigenen Ruhms ging, da hatte ihn nicht mal die Verleihung des Literaturnobelpreises 1954 milde gestimmt. Geradezu erschwerend kam also für Ford hinzu, dass er Hemingway 1923 zu seinem Co-Herausgeber erkor, als er in Paris die Transatlantic Review gründete, eine Zeitschrift für Kunst, Musik und Literatur, in der unter anderem Texte von Joyce, Pound, Gertrude Stein, Jean Rhys, William Carlos Williams, Jean Cocteau und nicht zuletzt Hemingway erschienen.
Trotzdem symbolisiert Hemingways Abneigung ganz gut die vergleichsweise bescheidene Position, die Ford in der Weltliteratur einnimmt. Ezra Pound drückte es seinerzeit so aus:„Mir scheint, man hat Ford bis heute noch nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen. Ich ging 1908 nach London, um von Yeats zu lernen – und ich blieb, um von Yeats und Ford zu lernen. Von 1910 an haben Ford und ich einander angeknurrt.“ Ford, der 1873 in einem Londoner Vorort geboren wurde, stand immer auf Augenhöhe mit den Größen der literarischen Moderne, mit Pound, Joyce und Henry James; er war angesehen als Förderer vieler literarischer Talente; er wurde halbwegs prominent durch die schriftstellerische Arbeit mit Joseph Conrad, mit dem zusammen er mehrere Romane schrieb, unter anderem „Nostromo“; und er erschuf selbst ein Werk mit über dreißig Romanen und fast achtzig Buchveröffentlichungen – und doch geriet er nach seinem Tod 1939 im französischen Seebad Deauville in Vergessenheit und blieb außerhalb Englands und der USA ein unbeschriebenes Blatt.
So gab es seinen 1915 erschienenen Roman „The Good Soldier“ erst 1962 in deutscher Übersetzung mit dem Titel „Die allertraurigste Geschichte“, und so blieb dieser, wenngleich zu seinen Hauptwerken zählende Roman lange Zeit das einzige übersetzte Ford-Buch. Vor drei Jahren gab es dann in der Anderen Bibliothek eine Neuübersetzung der beziehungspsychologisch auf höchstem Niveau angesiedelten und erzählerisch komplexen „allertraurigsten Geschichte“ sowie im Achilla Press Verlag die Übersetzung einer Koproduktion mit Joseph Conrad, der eher unbrillante Abenteuerroman „Bezauberung“.
Mit der Übersetzung des Romans „Some Do Not“ setzt nun der Eichborn-Verlag die Wieder- oder besser: Neuentdeckung von Ford Madox Ford im deutschen Sprachraum fort. „Manche tun es nicht“, im Original von 1924, ist gleichfalls eines der Hauptwerke Fords und bildet den ersten, in sich aber als abgeschlossen zu verstehenden Teil eines vierbändigen Romanzyklus namens „Parade’s End“. In dessen Zentrum stehen die Eigenheiten und der Lebenstil der Upper Class und gehobenen Middle Class Englands, ihre Bigotterien, Zerrüttungen und finalen Zuckungen – exemplifiziert an der Figur des Christopher Tietjens, der aus dieser Gesellschaftsschicht kommt und sich bald gänzlich im Widerstreit mit ihr befindet, und in den Grundzügen vergleichbar mit Thomas Manns „Zauberberg“, Prousts „Recherche“ oder Musils „Mann ohne Eigenschaften“: als Abgesang auf eine Ära, eine versunkene Zeit, als literarisches Abbild einer Welt, für die der Erste Weltkrieg eine Zäsur darstellt, vor deren Hintergrund die Katastrophe sich aber nur als Schemen abbildet.
„Ihre Klasse administrierte die Welt“, überlegt sich Tietjens zu Beginn von „Manche tun es nicht“, irgendwie stolz noch, aber schon skeptisch, denn die Verrohung der Sitten ließ sich diese Klasse auch „persönlich angelegen sein, entweder mit der kühlen Stimme eines Oxford-Absolventen oder in Briefen an die Times, in denen sie mit dem Ausdruck bedauernder Indignation Auskunft darüber verlangten, ob es ‚mit diesem oder jenem in Britannien schon so weit gekommen‘ sei?“. Solchen Gedanken gibt sich Tietjens hin, als er mit seinem Freund und Kollegen Macmaster in einem nach teurem Lack riechenden Zugabteil sitzt, auf dem Weg zu einer Golfpartie. Beide kennen sich seit Universitätszeiten und arbeiten als höhere Regierungsbeamte in der Imperialen Statistikabteilung. Während aber Macmaster, dem erst fortdauernde finanzielle Zuwendungen seitens Tietjens’ Familie zum beruflich-gesellschaftlichen Aufstieg verholfen haben, zielstrebig an seinem Fortkommen arbeitet, ist Tietjens in schwere private Turbulenzen geraten.
Guter Mensch von England
Nicht zuletzt deswegen ist er gerade dabei, ein Rebell mit Attitüde zu werden, ein wertkonservativer Außenseiter, der weiß, dass es „ein dreckiges Geschäft ist, Karriere zu machen“, und den es abstößt, dass ganz England „geradezu versessen“ darauf ist, Ehebruch zu begehen und auch noch zu rechtfertigen. Auch seine Frau Sylvia hat ihn betrogen und kurzzeitig verlassen, will aber zu ihm zurück. Obwohl Tietjens weiß, dass sie ihn nur geheiratet hat, weil sie von einer Liebelei mit einem anderen ein Kind erwartete, das er dann adoptierte, und obwohl er weiß, dass sie ihm in Zukunft die Ehehölle noch heißer machen wird, lässt er sich auf ihr Rückkehrangebot ein.
Auf diesen Grund zweier sich konträr zwischen den Polen Pflichtgefühl und Zerstörungswut verhaltender Ehepartner schichtet Ford sein Gesellschaftsporträt: flatterhafte Ladies, geile Gentlemen, verliebte Bankiers, standesbewusste Generäle, arme, aber angesehene Schriftstellerinnen, reiche, aber psychisch angeschlagene Geistliche, deren versnobte Gattinnen und viele mehr. Sie alle sehen sich zunehmend mit widerständigen Suffragetten, streikenden Arbeitern oder im Golfclub einfallenden Proleten konfrontiert, ohne dadurch ihr Weltbild entscheidend zu korrigieren. Mitten drin und weit draußen: Tietjens, Fords guter Mensch von England. Dieser sieht sich aufgrund seiner platonischen Zuneigung zu der Suffragette und aufopferungsvoll für sich und ihre Mutter arbeitenden Valentine Wannop dauernden Intrigen seiner Umgebung ausgesetzt, zieht in den Krieg, kehrt mit einer schweren Schützengrabenneurose zurück und muss feststellen, dass seine Umgebung trotz des Krieges noch immer die gleichen Bahnen abläuft: in literarischen Zirkeln und Soirees, interessiert nur an Karriere und Klatsch.
Tietjens entsprach dem Wunschdenken seines Erfinders genauso, wie er viele Ähnlichkeiten mit Ford aufwies: Auch Ford zog es im Alter von einundvierzig Jahren noch in den Krieg – weil er es als patriotische Pflicht ansah, aber auch, weil er sich so eine Atempause vor jahrelang ihn belastenden und öffentlich ausgetragenen privaten Kabalen verschaffen konnte. Tietjens flüchtet zwar auch vor dem Ehekrieg mit seiner Frau und möchte neben seiner Seele auch noch „seinen Körper reinigen“. Doch anders als dieser betrog Ford heftigst seine Ehefrau und später seine Geliebte, die Schriftstellerin Violet Hunt, die dann beide ihm das Leben so schwer wie möglich machten. Zurück aus dem Krieg, verwundet an Leib und Seele, arbeitet Ford seine Erlebnisse literarisch auf, kehrt aber England nach einer Episode als Schweinezüchter und Gemüsebauer den Rücken, um sich schließlich in Frankreich an „Parade’s End“ zu setzen.
Gerade vor dem Hintergrund der Kriegstraumatisierung Fords erstaunt es wenig, dass er sich in Tietjens einen zuweilen eine Idee zu holzschnittartigen Tugendbold schuf, eine oft ans Lächerliche grenzende Idealfigur – Tietjens ist „der brillanteste Mann im England jener Tage“, ein Durchblicker mit großem Herz, ein aufrechter Ehrenmann, der Werte, Normen und auch Konventionen nicht nur als Leerformeln begreift, sondern sie mit Sinn erfüllt. In Spuren immerhin eine coole Sau, die sich nicht um Kleidercodes, Vorgesetzte und Trinkgewohnheiten kümmert. Dann wieder eine arme Sau, an der alle rumzerren. Aber irgendwie auch ein blöder Hund, der seine Liebesgeschichte mit Valerie Wannop bewusst rein halten will: Manche tun es eben nicht, selbst wenn es alle tun. Allein schon aus dem Grund, weil alle glauben, Tietjens und Wannop tun es auch, und sie damit erst richtig zusammenschweißen: auf einer tollen und hochsymbolischen Nacht- und Nebelfahrt zu Pferd und auch später immer wieder. Viel Klopstock, aber kein Sex, selbst in der letzten Liebesnacht nicht, bevor Tietjens Hans-Castorp-mäßig in eine ungewisse (Kriegs-)Zukunft startet.
So viel Standhaftigkeit mag nervös und ungeduldig machen (Mensch, hau rein, du darfst! Du hast es dir doch verdient!), auch wenn Tietjens’ Gefährtin aus demselben Holz geschnitzt ist, gerade aber weil Ford mit der schonungslosen „allertraurigsten Geschichte“ schon viel weiter war – nur vor dem Krieg. Danach suchte er nach Perspektiven. Zu alt und reif, um sich im Jazz-Age zu verlustieren oder kokett einer „lost generation“ zugehörig zu fühlen, arbeitete er vielleicht wirklich lieber, wie es etwas pathetisch im Nachwort des vorzüglichen Übersetzers Joachim Utz heißt, „an der Genese eines neues Bewußtseins, das bereits das Versprechen eines sinnvollen Überlebens in der chaotischen Moderne, der Nachkriegszeit, enthält“.
Zeit im Zickzack
Erzähltechnisch jedoch ist Ford weiter den Errungenschaften der literarischen Moderne treu geblieben. Zahlreiche innere Monologe, Verzicht auf indirekte Rede, ein Reichtum an Dialogen, die keine Stringenz kennen, ohne Rücksicht auf Chronologie oder gar den Leser geführt werden und das später Erzählte oft schon andeuten und vorwegnehmen, zeitliche Zickzack-Sprünge und frei fließende Assoziationsketten kennzeichnen denn auch „Manche tun es nicht“ und lassen alle Figuren sich gleichberechtigt zu Tietjens entfalten: etwa Macmaster, dessen Gespielin Mrs Duchemin, Tietjens’ Bruder Mark oder auch Tietjens’ Vollblutweib Sylvia, die alles andere als platt die weiße Weste ihres Mannes beschmutzt, da Ford sie in den unterschiedlichsten Schwarzschattierungen zu zeichnen weiß, selbstverständlich ohne Wertung. Das alles macht diesen Roman zu einer mitunter schwierig-verworrenen, aber immer ergiebigen Lektüre, und davon hätte vielleicht sogar ein Ernest Hemingway noch das eine oder andere lernen können.
Ford Madox Ford: „Manche tun es nicht“. Aus dem Englischen von Joachim Utz. Eichborn Verlag, Berlin 2003, 435 Seiten, 24,90 Euro