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Archiv-Artikel

Zeichen und Wunder

Lebst du noch oder kaufst du schon: Zwischen samtenem Ehebett und frisch beschmierten Wänden wird der Übergang von privaten zu öffentlichen Räumen immer fließender. Ein Architekturband führt nun durch die aufregendsten Interieurs Berlins

VON ANDREA EDLINGER

Wer Innendesign mit einem Stadtführer verbindet, kann nur auf eine Momentaufnahme aus sein. Außenfassaden bleiben, während sich drinnen je nach Besitzer und Nutzungsabsicht alles ändern kann. Und doch prägen Innenräume den Charakter einer Stadt. Ansichten der „innovativsten Berliner Innenräume“ bietet Katharina Winkler in ihrem jüngst im Hamburger Junius Verlag erschienenem Architekturband „In.Between.Berlin – Shop Design + Public Interior“.

Das Buch eröffnet mit Übersichtsplänen einzelner Berliner Bezirke und versteht sich somit auch als Stadtführer. Er begleitet auf anschauliche Weise durch verschiedenste „Interieurs“, von Boutiquen in Mitte über Zahnarztpraxen in Kreuzberg bis hin zum Sportstudio in Glienicke. Ergänzt werden die Fotos durch Grundrisse und Skizzen der vorgestellten Projekte.

Das wirklich Überraschende ist dabei der Bereich des „public interior“. Dass es für diesen Begriff keine deutsche Übersetzung gibt, deutet den hybriden Charakter dieser Räume an: Ihre Öffentlichkeit beschränkt sich darauf, von jedermann betreten werden zu können. Der Clou dieser in Wahrheit privaten Räume scheint zu sein, dass das Design jede Zweckgerichtetheit und Funktionalität aufsaugt und vergessen macht, aber nicht etwa durch ein Öffnen, sondern gerade durch das Betonen der privaten, intimen Atmosphäre.

Gleich drei Beispiele innovativ gestalteter Zahnarztpraxen werden in „In.Between.Berlin – Shop Design + Public Interior“ gezeigt. Das Warten dort kommt einem Wellnessaufenthalt gleich. Ängstliche Unruhe soll auf den Sofas in der orange „Wartelounge“ bei Dr. Pabst in Kreuzberg gar nicht erst aufkommen, das Design lässt eventuelle Schmerzen schnell vergessen. Glaswände trennen Behandlungs- von Wartebereich: Zahnärzte, so suggeriert die Innenarchitektur, haben nichts zu verbergen.

Im Schuhladen „Camper“ werden die Kunden gleich in die Gestaltung des Innenraumes mit einbezogen. Ihre Bedürfnisse stehen im Zentrum der mallorquinischen Firma: Nicht rennen, sondern gehen sollen sie. Und selbst ein Zeichen setzen, per ausliegenden Filzstiften direkt an die Wände der provisorischen Läden. Hier ist es erlaubt, selbst seinen infantilsten Bedürfnissen freien Lauf zu lassen. Da der Mailänder Camper Shop nicht sofort bezogen werden konnte, entwickelte man eine kostengünstige Zwischenlösung: Regale aus Schuhkartons, preiswerte Hängeleuchten. Auch in Berlin-Mitte wurde ein Laden nach diesem Konzept eingerichtet. Hier kauft man nicht, sondern lebt.

Noch gemütlicher geht es bei „blush“ zu, einem Dessousladen in der Alten Schönhauser Straße. Der Verkaufsraum ist in ein komplettes Schlafzimmer verwandelt, in dessen Mitte ein samtgrünes Doppelbett steht. Der Erwerb der intimsten Bekleidungsstücke ist so eingebettet in den privatesten aller Räume. Der öffentlich-private Boutiqueraum wird zum Privatzimmer des Kunden. Von kleinen Accessoires bis zur Gestaltung der Teppiche entfaltet sich eine ganzheitliche Atmosphäre – was Ware ist und was Dekoration, ist dabei kaum auseinander zu halten.

Ohne Chill-out-Zonen kommen auch moderne Büros nicht mehr aus. In der Filmherstellung „das werk AG“ schlängeln sich endlos lange Kunstlederpolster an Boden und Decken entlang. Sie sind sowohl Liege- als auch Arbeitsfläche – mit integriertem Modem und Kopfhörer.

Glatt und rund, ohne Kanten zum Anecken: Wer immer diese Räume betritt, darf sich wie zu Hause fühlen, eben: „In.Between.Berlin“.

Wer zwischen samtenem Ehebett und frisch beschmierten Wänden doch noch die Orientierung verlieren sollte: Zu Hause ist im Zweifelsfall immer noch da, wo die Staubknäuel unter dem durchgesessenen „Klippan“-Sofa liegen.

Katharina Winkler: „In.Between.Berlin – Shop Design + Public Interior“. Junius Verlag