Mitmachsender macht Pisa-TV

Die schlechte Nachricht: Der dümmste Sender Deutschlands ist auch der erfolgreichste. Die gute Nachricht: Mit einer „innovativen Qualitätsoffensive“ will Neun Live künftig Bildung und Jobs vermitteln. Die Leitungen sind freigeschaltet

von CHRISTIAN BUSS

Neun Live ist Deutschlands erfolgreichster Fernsehsender, jedenfalls am Wachstum gemessen. Zehn Millionen Euro Gewinn hat das junge Münchner Unternehmen letztes Jahr mit einem Programm erwirtschaftet, in dem es eigentlich nur ums Anrufen und Ausziehen geht. Geschäftsführerin Christiane zu Salm darf das als persönliche Leistung verbuchen, weshalb sie sich am Mittwoch auf einer Pressekonferenz in Hamburg von ihren Anheizern wie eine HipHop-Queen aufs Podium rufen ließ. Dann begann sie einen großspurigen, aber variationsarmen Rap. Sie kündigte für den April eine „Qualitätsoffensive“ an und wiederholte rekordverdächtig oft das Wort „innovativ“.

Tatsächlich führte ihr Sender eine Neuerung im deutschen TV ein – eine Art Verteilerkampf, der sich über den gesamten Programmverlauf erstreckt und aufs Wesentliche menschlicher Begierden beschränkt ist. In fast allen Shows schnuppern die Moderatoren an Euro-Scheinen. Neun Live ist Instinkt- und Suchtfernsehen. Die Betreiber selbst nennen es Mitmachfernsehen, weil die Zuschauer über eine 01379-Nummer für 49 Cent pro Anruf zum Beantworten von Quizfragen durchgestellt werden – wenn sie denn den „Hot Buttom“ überwinden, einem Zufallsgenerator, der von einem externen Telefondienst betrieben wird.

Bis zu 22 Millionen Zuschauer riefen im Rekordmonat Dezember an. Bei einer technischen Reichweite von 27 Millionen könnte sich also theoretisch fast jeder einmal gemeldet haben. In der Praxis sieht es allerdings eher so aus, dass einige wenige Verzweifelte eine verdammt hohe Telefonrechnungen haben. Dass man ihren Sender in die Nähe des Glücksspiels rückt, erzürnt Christiane zu Salm. Schließlich müssten alle Zuschauer mehr oder minder schwierige Fragen beantworten, und nach der Reform im Frühjahr ist sowieso Schluss mit den leichten Fragen. Dann soll Neun Live zur medialen Volkshochschule umgebaut worden sein. Denn weil jeder Bürger im Lande auf das Wort „Pisa“ mit der gleichen instinktiven Erregung reagiert wie auf das Wort „Steuerhöhung“, führen die Münchner marktbewusst eine Reihe neuer Sendungen ein, in der Bildung vermittelt wird. Vielleicht erreicht man sogar noch ein paar neue Zuschauer.

Um das zahlungswillige Stammpublikum nicht zu verscheuchen, werden die neuen Shows zum Teil von alten Neun-Live-Kräften moderiert. Das unerreichte Low-Budget-Design der Kulissen aber bleibt erhalten. So wird ab April die Gameshow „Spielplanet“ ins Programm genommen, in die alle modernen Kommunikationstechniken Eingang finden sollen. Doch die auf der Pressekonferenz gezeigten Ausschnitte, in denen eine Dame mit knallroter Perücke wie eine Ertrinkende im digital rückprojizierten Sternenmeer rumrudert, erinnerten verdächtig an die Strip-Wettervorhersage im nächtlichen Ringelpiez „LaNotte.“

Trotz handwerklicher Bescheidenheit sehen sich die Neun-Live-Macher als Avantgarde eines interaktiven, sozial ausgerichteten Fernsehens. Einige von ihnen glauben gar, größere Sender in „moralischen Zugzwang“ setzen zu können. Und zwar durch die neue Sendung „Job-Chance“, in der Arbeitgeber Stellengesuche aufgeben und Arbeitslose gecoacht werden. Moderator Thomas Wilsch wirkt relativ seriös zwischen den fröhlichen Neun-Live-Kollegen, die man sich gut als Heizdeckenverkäufer in der Sahara vorstellen könnte. Wilsch weiß um die Brisanz des Themas, und er weiß auch, dass sich sein Projekt nur legitimiert, wenn konkrete Arbeit vermittelt wird. Um der Redlichkeit Ausdruck zu verleihen, ist man vom Neun-Live-Geschäftsprinzip abgerückt: Bei „Job-Chance“ gibt es keine Anrufer, die Geld in die Kassen spülen. Leider ist die Sendung nur eine halbe Stunde lang.

Denn die Vieltelefonierer bleiben auch in Zukunft die erste Einnahmequelle. Der Suchtqualität des Programms ist man sich übrigens bewusst; auf der Homepage wird den ganz harten TV-Junkies angeraten, sich die fatalen 01379-Nummern sperren zu lassen. Ansonsten will man sich über Kollateralschäden keine Gedanken machen. Christiane zu Salm findet: „Wenn man zu viele Hamburger hineingeschlungen hat, beschwert man sich auch nicht darüber, dass es einem schlecht geht.“