: Der leere Sockel
Das SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH
Aufklärung, so schrieb der Bürger Diderot, bestehe darin, falsche Ideen und Begriffe vom Sockel zu stoßen – und zu Unrecht vom Sockel gestoßene wieder draufzustellen. Das ist ein schönes Rezept. Man muss allerdings aufpassen, ob es sich dabei noch um dieselben Ideen handelt – oder um untote.
Neuerdings wird das Bürgerliche gern beschworen, vorwiegend von Leitartiklern, die sich um die Schulkarriere ihrer Kinder und die Arbeitsmoral der unteren Stände sorgen. Um Raum dafür zu schaffen, entsorgte der Historiker Paul Nolte kürzlich (Zeit 52/03) den Begriff der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Der war von Helmut Schelsky in den Fünfzigerjahren geprägt worden. Er behauptete, die Klassengegensätze seien verschwunden, die Herrschaft des Kapitals durch die Sachzwänge der Industriegesellschaft abgelöst, die nun allen einen kleinbürgerlich-mittelständischen Lebensstil gewähre. Die Gesellschaft sei nicht mehr der Träger von kollektiven „Sinnbedürfnissen“, an deren Stelle trete das „unendlich zu steigernde“ Versprechen immer neuer Konsum- und Vergnügungsmöglichkeiten. Der konservative Schelsky ekelte sich zwar ein wenig vor der „Rute des Absatzterrors und den nach Konsumlust winselnden hedonistischen Massen – aber, was sollte man machen: Nation, Bildungsbürgertum, Reich waren gescheitert, der Kommunismus zum Fürchten, das Christentum im Rückzug – da blieb nur der Kapitalismus als Integrationskraft. Wer seine Konsequenzen nicht wollte, der konnte ihn mildern: mit Volkshochschulen, Wüstenrot und Lesering. Schelskys Mittelstandsgesellschaft wurde zum Spitzenslogan der soziologischen Nachkriegsideologie. Für ein Jahrzehnt verschwanden Klasse, Bürgertum, ja selbst Unterschicht aus der Diskussion.
Und nun brauchen wir diese Begriffe wieder, schreibt Nolte. Und bestätigt die „neomarxistischen“ Befunde sowohl der Industriesoziologie wie der vulgärfrankfurter Manipulationstheorie der Siebziger: Nach den goldenen dreißig Jahren des Wachstums und mit der neoliberalen Wende ist Schluss mit der familiensichernden Vollbeschäftigung, der Eigenheimzulage, den Volkshochschulen, der Sozialpartnerschaft. Und aus den Gewinnen des Leserings wurde RTL – „ein spezielles Unterschichten-Fernsehen“ – gegründet. Es wächst die Drittelgesellschaft von prekär oder überhaupt nicht Beschäftigten, und mit ihnen eine „Klassenkultur der Unterschichten“ – verfettende unvollständige Familien, die ihr „klassenspezifisches Konsumdreieck aus Tabak, Alkohol und Lottospiel“ höchstens verlassen, um sich Wimpys einzupfeifen, in der Videothek den nächsten Junk-Sinn auszuleihen oder in der U-Bahn Gewalt auszustreuen.
„Verwahrlosung“ also. Und wer ist schuld? Nicht „Big Business“, sondern die „sinkende Kraft“ des „bürgerlichen Kulturmodells“. Nicht die Verhältnisse – also das komplexe Zusammenspiel von Investitionsentscheidungen, Rationalisierung und Entlassungen, nicht wachstumsreligiöse Volkskanzler, Bürger Kirch, nicht der Aufstieg der Unterhaltungs- und Lifestyle-Industrien, nicht einmal der geistige Selbstmord der Sozialdemokratie – sondern: die Achtundsechziger. Die Eltern und die Lehrer, die ihren Kindern den Sinn für bürgerliche Werte aberzogen und den Nährwert der Hochkultur relativierten.
Aber wer die Gefahr sieht, der weiß auch, wo die Rettung ist: ein „Neubeginn im politischen Umgang mit den Unterschichten“ sei geboten; es gehe darum, „die Kulturen der Armut und der Abhängigkeit, des Bildungsmangels und der Unselbständigkeit herauszufordern“ und mit bürgerlichen Werten „aufzubrechen“. Das klingt fürsorglicher und weniger zynisch als etwa Peter Glotz’ fatalistische Prognose, ein Drittel werde eben im digitalen Kapitalismus nicht mehr gebraucht, man möge ihnen ein karges Grundeinkommen garantieren, damit sie nicht mit Steinen schmeißen. Nolte will die Prolls wieder in die „Mehrheitsgesellschaft“ integrieren, an die bürgerlichen Werte „anschließen“. Man müsse es der Unterklasse zumuten, McDonald’s zu meiden und sich durch „im Hause zubereitete Mahlzeiten aus Kartoffeln und Gemüse, aus Vollkornbrot und Käse“ zu ernähren, Bücher zu lesen statt Videos zu schlucken, ja, die Fähigkeit zu erwerben, die kommerzielle Kultur „ironisch“ zu genießen und „zwischen den verschiedenen Stilebenen zu wechseln wie der Zapper zwischen RTL 2 und Arte, zwischen Aldi und Edel-Italiener“. Vor allem aber sollen sie wieder „Leistung und Disziplin, Bildung und Benehmen, Höflichkeit und Toleranz“ lernen. Zusammengefasst: Gerade die Prekären, die Ausgeschlossenen, die Unbefähigten sollen vom Staat eine Nobel-Erziehung bekommen, die sie befähigt, „to work hard and play by the rules“.
Und wozu? Bei der Lage auf dem Arbeitsmarkt liefe das auf eine, durch Umverteilung in den Bildungssektor provozierte, verschärfte Konkurrenz hinaus, mit den Mitgliedern ebender Mehrheitsgesellschaft, die selbst schon den Zweiturlaub durch Arte und den Italiener durch Käsebrot ersetzt. Noch einmal Glotz: die hedonistisch sozialisierten Mittelschichten werden, in ihrer „sagenhaften Gier“, ihre Privilegien, also ihre Arbeitsstunden, mit Zähnen und Klauen verteidigen. Die Reichtumsmaschine Kapitalismus hat sich von den „bürgerlichen Werten“ schon längst emanzipiert, spätestens seit dem Siegeszug der Aktiengesellschaften, und Noltes Plädoyer für sie läuft, bei beibehaltenen kapitalistischen Institutionen, auf einen Turbokapitalismus mit guten Manieren hinaus – oder auf Kursverfall und Arbeitsplatzverlust bei Nokia, Nestlé und Sat.1.
Und deshalb sollten wir das große Wort bürgerlich reserviert halten für eine glorreiche vergangene Epoche – oder für das große Projekt, das noch nicht gelungen ist. Denn es gibt da eine Tradition in der bürgerlichen Geschichte, die ihre beiden Stränge, Aufklärung und Kapitalismus, vereint: die der weltbürgerlichen Arbeitsgesellschaft. Ihr zufolge ist Kapital kein persönliches Eigentum, sondern die gesellschaftlich zu verwaltende Arbeit vergangener Generationen, die zum Nutzen der kommenden angewendet wird, damit Fortschritt geschehen kann. So die bürgerlichen Leuchttürme von John Locke und Adam Smith bis Walter Rathenau – dem Plutokraten, der darauf bestand, dass „an der Arbeit, die in unsichtbarer Verkettung alle leisten, alle berechtigt sind“, und gleichmäßige Besitzverteilung, die Abschaffung des „verdienstlosen Massenerben“ und eine Steigerung des öffentlichen Reichtums forderte, für den der Kapitalist ein Funktionär der Gesellschaft war. Oder John Maynard Keynes, der darauf bestand, dass Wirtschaft kein Selbstzweck ist, die Befreiung von materieller Not ein Ziel hat: allen Einzelnen genug Zeit zu geben für die Befriedigung kultureller Bedürfnisse; und der deshalb die allgemeine radikale Verkürzung der Arbeitszeit und eine Verlangsamung der Bedürfnismaschine propagierte – damit „die armen Nachbarn“ ein Leben hätten, und wir auch. Bürger, das sind heute einzig die Teilnehmer an Bewegungen, die diesen bürgerlichen Idealen noch eine Zukunft geben. „Work hard and play by the rules“, das ist die halbierte Bürgerlichkeit, solange man nicht über die rules streitet. Und deshalb bleibt, wie Adorno schon sagte, der Sockel einstweilen leer.
Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin