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Archiv-Artikel

Hässlich? Na und?

In Kiel wird am Freitag der deutsche Grand-Prix-Gewinner gekürt – und doch wird die Nation nichts über diese Stadt erfahren. Gemein. Denn die Kapitale Schleswig-Holsteins ist vielleicht nicht trendy. Aber unter spröder Oberfläche irgendwie doch okay

von DIRK KNIPPHALS

Sicher, es gibt aufregendere Städte. Und: Doch, schon, manchmal ist auch Neid zu registrieren. Erst neulich wieder zum Beispiel, als ich den Roman „Schiffbruch mit Tiger“ des Schriftstellers Yann Martel gelesen habe.

Martel, so heißt es im Klappentext, „wurde 1963 in Spanien geboren. […] Er wuchs in Costa Rica, Frankreich, Mexiko, Alaska und Kanada auf und lebte später im Iran, in der Türkei und in Indien.“ Und ich kann von mir behaupten: Ich bin in Kiel und in Rammsee aufgewachsen, wobei man wissen muss, dass Rammsee eine Einfamilienhaussiedlung ist, die zweieinhalb Kilometer vor den Toren der schleswig-holsteinischen Landeshauptstadt liegt. Weit bin ich auf den ersten Stationen meines Lebens also nicht gekommen.

Im Lebenslauf vermittelt so ein Herkommen wahrscheinlich eher den Eindruck des Bodenständigen als den des Kosmopolitischen. Und nichts spricht dafür, dass sich das einmal ändern könnte. Auch am 7. März wird sich der Coolnessfaktor Kiels sicherlich nicht wesentlich erhöhen – trotz des Glanzes, der an diesem Tag auf die Stadt als Austragungsort der deutschen Vorentscheidung zum Grand Prix fallen wird.

Wobei: Obwohl mich Kiel irgendwann nicht mehr halten konnte, bin ich dann doch so viel Kieler Jung geblieben, um zu finden, dass dieser Yann Martel auch ein bisschen übertreibt. Zumindest Alaska und Iran wären wirklich nicht mehr nötig gewesen. Angeber.

Nun aber: Wissenswertes über Kiel! Werft- und Marinestadt mit allen Problemen, die das mit sich bringt – die Marine wird verkleinert, Werften gehen pleite. ’ne Viertelmillion Einwohner, und alle wollen sie der Handballmannschaft des THW zusehen, des Turnvereins Hassee-Winterbek, dessen Mitglied ich auch einmal war.

Falls Sie als Nichtkieler auch einmal in den Genuss dieser gerühmten Ostseehallenatmosphäre kommen wollen: Vergessen Sie es! Ist immer ausverkauft. Dauerkarten des Serienmeisters können im Grunde nur durch Einheirat in eine alteingesessene Kieler Familie erworben werden; wie man hört, werden sie mittlerweile vererbt. Was auch daran liegt, dass Kiel außer dem THW sportlich nichts zu bieten hat.

Außerdem ist Kiel noch Amtssitz der einzigen deutschen Landesregierung, die sich in den Sitzungspausen mit Blick auf ein Meer erholen kann; was aber auch nichts daran half, dass die Kieler Regierungsgeschichte mit dem einzigen Selbstmord eines deutschen Ministerpräsidenten belastet ist, wenngleich sich Uwe Barschel in einer Genfer Badewanne und nicht im Meer das Leben nahm. Das Landesparlament liegt jedenfalls direkt an der Förde, das ist jener Teil der Ostsee, der bis zum Kieler Hauptbahnhof reicht.

Darüber hinaus lässt sich das Image Kiels im Urteil der Weltöffentlichkeit im Allgemeinen und in dem meiner Bekanntschaft im Besonderen mit zwei Wörtern am ehesten beschreiben: Segeln und Hässlichkeit. Eine der Exkielerinnen, mit denen ich neulich über Kiel sprach, hatte keine Mühe, in anderthalb Stunden etwa ein Dutzend Mal das Wort „Regen“ in ihre Sätze einzuflechten.

Erwähnt werden muss dabei allerdings, dass sie eine Zugezogene war, erst im Alter von sechzehn Jahren nach Kiel gekommen. Gebürtige Kieler bevorzugen eine andere Formulierung: Es frischt in Kiel, sagen sie in Anlehnung an „Asterix und die Normannen“, eben gelegentlich etwas auf.

Kann aber schon sein, dass es das in Kiel etwas öfter als sonst wo tut. Mein Fußballtrainer hatte jedenfalls früher, wenn es sonntags beim Kick gar zu sehr schüttete und wir moserten, den Spruch drauf: „Ja, seid ihr denn aus Zucker?“ Irgendjemand aus der Mannschaft konterte einmal mit dem Satz: „Nee, aus Eisen, aber das kann rosten.“ Was mein Trainer nur mit einem müden Lächeln quittierte.

Wenn ich mich recht erinnere, kleidete er von Berufs wegen für einen Zulieferer der Howaldtswerft U-Boote mit Asbest aus. Für Segler hatte er natürlich, das versteht man jetzt besser, genauso wenig übrig wie für andere Weicheier.

Dem Klischee, dass alle Kieler segeln, muss an dieser Stelle sowieso energisch widersprochen werden. Man braucht schließlich nicht alles in die Tat umzusetzen, nur weil man vor der Haustür ständig die Gelegenheit dazu hat.

Hässlich ist Kiel aber wirklich. Jedenfalls: die Innenstadt. Überraschend aber ist, dass es kaum einen Kieler gibt, der das Gegenteil behaupten wird, ja sogar darauf beharrt, diese Stadt habe so etwas wie Charme. Architektonisch ist sie eine Wüste. Was die Bomber im Zweiten Weltkrieg übrig gelassen haben, das planierte die Stadtplanung spätestens in den Siebzigerjahren. Die letzten Gässchen wurden platt gemacht, quadratische Kaufhäuser an ihre Stelle gesetzt.

Kiel, sowieso erst durch die Marinebegeisterung Kaiser Wilhelms II. eher zur Industrie- und Werftstadt aufgepumpt denn organisch gewachsen, verlor seinen letzten Rest Altstadt. An ihre Stelle trat diese ehemals vielleicht großzügig wirkende, inzwischen aber in die Jahre gekommene Moderne, die viele der nach 1945 rasch wieder aufgebauten deutschen Städte ziert. Zwar besitzt Kiels Innenstadt die älteste Fußgängerzone der Republik, aber auch darauf stolz zu sein gibt es wenig Grund. Sie sieht mittlerweile eben auch ziemlich ergraut aus.

Also: Keine beeindruckenden Schlösser, keine Burgen, Kathedralen und keine malerischen Gässchen, mit denen süddeutsche Städte so gerne prunken; dafür der Geruch von Meer, dafür Schiffssirenen und eine immer noch imposante Werftenkulisse mitten in der Stadt. Keine hanseatische Aura, kein Thomas Mann, kein Buddenbrook-Haus, überhaupt keine Erzählung, die die Geschichte Kiels umspielt; nur wenn im Fernsehen mal wieder vom Ersten Weltkrieg die Rede ist, sieht man garantiert preußische Kaiserschargen in absurdem Hutschmuck an der Kieler Förde herumlaufen, irgendwelche neuen Panzerschiffe einweihend.

Auch kein Grönemeyer, der die Stadt besingt („Du bist keine Schönheit“); dafür gute Luft, Rasenplätze auch im Amateurfußball, die hübschen Stadtviertel um den Schrevenpark oder den Blücherplatz, das Aquarium mit dem Seehundbecken, die Brücken über den Nord-Ostsee-Kanal, die Kieler Woche – eigentlich gar nicht so übel.

Und das mir Wichtigste kommt erst noch: das Umland. Über diese Gegend jenseits der Stadt reden Kieler sowieso am liebsten. Da wohnen, wo andere Urlaub machen. So lautet einer der schlagenden Werbesprüche, mit denen sich Kiel öffentlich, also außerhalb von Schleswig-Holstein, zu behaupten sucht. Nun kann man zwar streiten, ob man seinen Jahresurlaub wirklich ausschließlich in der Umgebung Kiels verbringen sollte – andere Länder, andere Sitten gibt es hier jedenfalls nicht kennen zu lernen (dafür ist der Caipirinha inzwischen so gut wie überall).

Aber das alles ist schon schön: die Strände entlang der Kieler Förde, auf der Ostseite familiengerecht sanft ins Wasser auslaufend, auf der Westseite irgendwann in eine Steilküste übergehend, die zwar nach achtzehn Uhr die Sonne wegnimmt, bis dahin aber so malerisch wie trutzig aussieht. Dann im Westen Kiels die Wälder, die auf den sanften Hügeln der Endmoränenlandschaft gewachsen sind, wo Seen liegen, in denen man – besserer Landwirtschaft sei Dank – des Nachts im Mondschein schwimmen oder an denen man tagsüber Vögeln zuschauen kann, so fremdartig anmutenden Vögeln, dass man nicht mal die Hoffnung hat, sie im Bestimmbuch zu finden (man findet sie dann natürlich doch!).

Schließlich und vollkommen egal, in welcher Richtung man sich aus Kiel herausbewegt, die Rapsfelder, die Fahrradwege und der Wind, nicht zu vergessen die Knicks, in denen man sich als Kind so herrlich verstecken konnte (jede Höhle zwischen den dünnen Baumstämmen eine eigene Ritterburg) und in denen im Herbst Schlehen und Brombeeren wachsen – Achtung: Die Flecken sind aus der Kleidung nur sehr schwer herauszubekommen!

Zugegeben, mit einer auch nur annähernd akzeptablen großstädtischen Anmutung hat das alles nicht das Geringste zu tun. Aber vielleicht wissen Sie jetzt, warum viele Kieler nur mit den Achseln zucken, wenn man ihnen sagt: Deine Stadt ist aber hässlich! Na und?, sagen sie dann und setzen sich auf ihre Motorroller, um mal eben über den Nord-Ostsee-Kanal zu brettern und die Mittagspause am Strand zu verbringen.

So habe ich es jedenfalls gehalten, sobald ich im Grundstudium zwischen den Vorlesungen und Seminaren drei Stunden freihatte. Am Strand von Falckenstein traf man dann häufiger rot gebrannte und oft lallende Rheinländer oder Ruhrpöttler: frisch im Norden eingetroffene Matrosen auf Ausgang, die ein paar Bier zu viel getrunken und die Sonne in Schleswig-Holstein unterschätzt hatten. In der Tat gehören kahl geschorene Männer mit Sonnenstich zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen. Auf sie traf man fast so häufig wie auf Quallen in der Ostsee. Zum Glück brauchte man sich nicht sonderlich um sie (die Männer!) zu kümmern: Die kamen bald wieder zu sich!

Wo wir gerade bei Bekenntnissen sind: Zum Schluss sei noch mein Lebenstraum verraten. Er besteht darin, in einer pulsierenden Großstadt am Meer zu leben, wo man – nur zum Beispiel – direkt vom Strand ins Foyer eines Weltklassetheaters gehen oder sich beim Schwimmen im Meer gelegentlich darüber Gedanken machen kann, in welchem Stadtteil man eigentlich noch nie gewesen ist.

Diesen Wunsch wird mir Kiel sicherlich auch in Zukunft nicht erfüllen (Berlin allerdings auch nicht; im einen Fall fehlt’s an den Einwohnern, im andern am Meer). Aber irgendwoher muss ich diesen Traum ja haben.

Go on, Kiel! Und: Ist Yann Martel etwa jemals in einer Nacht, in der der Westwind wie verrückt Wolken über den Vollmond treibt, an der Kieler Förde gewesen? Wenn das dunkle Wasser gegen die Molen plätschert und in Richtung Meer garantiert die Positionslichter eines großen Schiffes leuchten? In solchen Momenten kann man ein Gefühl kriegen wie, ich will mal so sagen: Fuck Indien!

Als schönste Stadt der Welt mag mir meine Heimatstadt nicht erscheinen (so wie andren die ihre). Aber fast, ganz bestimmt. Und manchmal befällt mich der Eindruck, früher nur heimlich, jetzt immer heftiger: Man kann in schlechteren Städten leben.

DIRK KNIPPHALS, taz-Kulturressortleiter, geboren 1963 in Kiels Lerchenstraße 2, direkt gegenüber dem Hauptbahnhof, besucht, wenn er denn mal wieder in seine Heimat fährt, am liebsten die Seehunde an der Kiellinie