: Weltkulturerbe Riga
In Lettlands Hauptstadt bereitet man sich auf den Grand Prix Eurovision vor. Ein teurer Event – aber er soll sich rentieren. Rigas Kulturszene zwischen Skepsis und Experimentierlust
von JAN FEDDERSEN (Text) und THOMAS MÜLLER (Fotos)
Peteris Blums lacht wohl nur privat. Seit Ende der Siebzigerjahre, als Lettland noch eine unter vielen Sowjetrepubliken war, ist der Mittfünfziger als Denkmalpfleger, Stadtplanungskritiker und Architekt unterwegs. Und ihm ist Riga lieb und wert. Würde er sonst so akribisch darauf beharren, alles erklären zu wollen? Und nichts zu beschönigen? Und weil ihm die Sache ernst ist, wirkt er immer etwas besorgt.
So sagt er: „Es gibt keine öffentlichen Mittel für die Stadtplanung. Alles soll der Markt regeln.“ Das heißt Geld von Investoren, nicht von Mäzenen. Momentan, das mag Blums nicht verhehlen, scheint das größte Problem, dass die schönsten Teile Rigas von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt worden sind. „Selbst die Altstadt. Aber die hätte das gar nicht nötig, zumal in ihr viel zu viel zerstört wurde.“ Das Problem sei freilich, dass die Auszeichnung der Unesco alle finanziellen Mittel der Stadt aufzehrt. Weltkulturerbe – ein Attribut, das alles in Bernstein zu konservieren scheint. „Man kann aber nicht alles unter Schutz stellen. Das bindet alle Kräfte.“ Und überhaupt: Wer will schon zum Disneyland werden?
Die schönsten Teile stehen also unter Denkmalschutz, es betrifft auch alle nahen Viertel außerhalb des früheren Festungsgrabens, die die Altstadt und die Daugava trennen. Dort stehen architektonische Kostbarkeiten, die keine andere Stadt Europas zu bieten hat. Jugendstilensembles, Gründerzeithäuser – und prunkvolle Holzhäuser. Zeugnisse lettischen Aufschwungs, der Mitte des 19. Jahrhunderts begann, als Riga zu einer der wichtigsten Schleusen russischer Warenströme in den Westen ausgebaut wurde, und der bis Ende der Dreißigerjahre andauerte und dem Land einen der höchsten Lebensstandards der Welt ermöglichte.
Damals begann das, was in Lettland als Okkupation begriffen wird. Der Hitler-Stalin-Pakt, die Besetzung Lettlands durch die Rote Armee, die folgende Eroberung durch die NS-Wehrmacht, die Deportation der jüdischen Bevölkerung, schließlich die Einverleibung des Landes durch die Sowjetunion. Aber ehe Lettland zum Korn zwischen zwei Mühlsteinen wurde, war Riga eine Stadt mit quirligsten Lebensbedingungen. Deutschbalten, Letten, Russen, Juden lebten zusammen, „nicht spannungsfrei, aber ohne größere Probleme“.
Riga war der Puls des Baltikums. Eine Metropole, die sich der privilegierten Position bewusst war, Eisenbahnanschluss an Russland zu haben und zugleich einen Ostseehafen, über den Waren und Rohstoffe exportiert werden konnten. Riga war ökonomisch mächtig wie keine andere Stadt im nordöstlichen Europa. Begann dort die Ökonomie zu lahmen, hatte dies Folgen für alle baltischen Länder.
Peteris Blums’ Miene ist anzumerken, dass er diese alte Zuversicht gern wieder spüren möchte. Er zeigt auf seiner Fahrt durch die Stadt die kleine Landzunge Kipsala, von der aus ein Luxusblick auf das durch Kirchtürme konturierte Panorama der Altstadt möglich ist – getrennt nur durch die Daugava. Früher lebten dort Industriearbeiter und ihre Familien. Ihre Holzhäuser verfallen, aber wer das Geld hat – und davon gibt es in Lettland immer mehr –, kauft sich dort ein Grundstück und will die schöne Lage genießen. Blums missfällt die Art, wie einige dieser Häuser restauriert wurden: „Es muss passen“, sagt er knapp und zeigt auf das Haus eines Bankers, das durch eine gewisse Protzigkeit aus dem Rahmen fällt.
Der Mann ist einfach nur deprimiert. Auf die Frage, ob er denn des Kämpfens nicht leid sei, sagt er zunächst gar nichts. Dann formuliert er bedächtig den Satz: „Ich kann nicht zusehen, wie so vieles verfällt. Die Stadt ist so schön. Sie hat verdient, dass man sie erhält und wieder zum Blühen bringt.“
Wir treffen unseren nächsten Zeugen zur Frage, wie Riga tickt und was Lettland sein möchte, am Schnittpunkt zwischen Altstadt und dem Park, der einst ein Festungsgraben war: in der Oper. Ein Haus, das vor 150 Jahren als Deutsches Theater gegründet und 1919 zur Lettischen Nationaloper umgewidmet wurde. Ihr Chef heißt Andrejs Zagars und ist im Vergleich zu Peteris Blums’ von juvenilem Zuschnitt. Ganz in Schwarz gekleidet, das Sakko lässig angeknittert, die Brille modisch eckig. 1958 im sibirischen Krasnojarsk geboren, Kind von Eltern, die aus Lettland vertrieben worden waren, gelernter Schauspieler. Seit 1996 steht er der wichtigsten Bühne des Landes vor.
Der Mann sagt unumwunden: „Karrieren wie meine sind in Ländern wie Deutschland oder Schweden nicht möglich. Das ging nur, weil wir ein Land im Aufbruch sind.“ Menschen, die etwas von bürgerlicher Hochkultur verstehen und auch noch Letten sind – das war selten vor zwölf Jahren, als sich das Land endgültig von Russland löste. Aufbruch, den verlangt man von ihm, also die Renaissance besserer Tage, als Berliner Prominenz zur Premiere anreiste, weil Wagners „Fliegender Holländer“ gegeben wurde. Und diesen Aufbruch, Zagars ist Realist, den versteht er in seinem Haus als stetes Provisorium: „Viele Letten sind sehr konservativ. Sie wollen Theater mit viel Samt.“ Schöne Kostüme. Geschmeidige Geigen. Prächtige Kostüme. Und keine Verstörungen.
Zagars lehnt diese Dinge nicht ab, doch er wäre kein guter Opernchef, würde er Wünsche nach behaglicher Repräsentanz reibungsfrei bedienen. Aber er hat keine geldlichen Mittel, die Modernisierung aus eigener Kraft zu schaffen. „Wir sind in Kontakt mit vielen, vielen Bühnen. In Stockholm, in Köln, in London. Von dort kommen die Inszenierungen, die wir brauchen.“ Dann springt er aus dem Ledersofa auf, verlässt sein ebenfalls in Schwarz, nachgerade staubfrei gehaltenes Büro und sagt: „Wollen Sie heute unsere ‚Carmen‘ sehen? Wir haben die Geschichte etwas geändert. Spielt nicht mehr im Spanien von früher. Die Zigarettenfabrikarbeiter sind bei uns Asylanten. Das ist das Thema von heute.“
Guntars Racs arbeitet jenseits der schönen Seite Rigas südlich der Daugava in einem Viertel, das mehr einem Industriegebiet als einem Wohnquartier gleicht. Zu Fuß geht man vorbei am monströsen Markt- und Händlerviertel am Bahnhof, linker Hand das abgeschabte Erbe sowjetischer Prunkarchitektur, der verfallende Palast der Akademie der Wissenschaften. Racs, ein Mittdreißiger, ist Direktor der Mic Rec Studios, einer Firma, die das Gros der lettischen Popmusikproduktion bestreitet. Man ist autonom, einerseits, und international, andererseits, an die EMI, einen Global Player im Unterhaltungsgeschäft, angebunden.
Wenn einer die lettische Musikszene kennt, dann er. Racs arbeitet selbst als Texter, hat Liedern des lettischen Komponisten Raimonds Pauls Gesicht gegeben und für lettische Schlagerstars geschrieben. In seinem Büro entscheidet sich, ob jemand was werden kann im Lande, und „in dieser Hinsicht“, so sagt er, „ist es egal, um welchen Stil es geht“. Das darf HipHop sein oder Rock, Schlager oder Fahrstuhlpop, gegebenenfalls auch Heavy Metal. Das Stilgemisch macht schon deshalb Sinn, weil das Land eben klein ist. Eine Goldene Schallplatte gibt es für viertausend Exemplare eines Tonträgers, Platin für achttausend. Racs‘ Aufgabe ist es nicht, wie Opernchef Zagars es tun muss, dem Volk behutsam das Neue nahe zu bringen, sondern zu erkunden: Was wollen die Leute, vor allem die jungen, hören?
Kann er sagen, dass es eine lettische Musik gibt? „Lettland hat immer von Einflüssen gelebt. Früher vor allem von russischen. Ich glaube inzwischen, dass die Sprache das einzig Wichtige ist, um sagen zu können, ja, das ist lettisch.“ Nach der Unabhängigkeit des Landes 1991 und der Gründung einer Fülle von Privatradios gab es fast nur Programme, deren Repertoire sich aus internationalen Üblichkeiten speiste, Tina Turner, U2, Smokey, Phil Collins, Beatles, Madonna und Mariah Carey. „Vor drei Jahren hat der lettische Rundfunk eine Welle eingerichtet, auf der, unabhängig vom Stil, nur Musik mit lettischen Texten gespielt wird.“ Und war über Nacht der Quotenrenner: Radio 2 freut sich Jahr für Jahr über einen Höreranteil von dreißig Prozent.
Im Übrigen, so Racs, sei er ein wenig nervös. Nächste Woche kommt die neue CD von Brainstorm, der Gruppe, mit der Lettland im Jahre 2000 erstmals im Konzert der Eurovision mitmachte, die einen dritten Platz belegte – und seither als Nationalheiligtum verehrt wird. Die Band, die einen Stil irgendwo zwischen Travis, A-ha und Oasis pflegt, hat das neue Album in München produziert. „Wir sind über sie sehr glücklich.“ Racs, der ein wenig einem toughen Teddybären gleicht, scheint dies nicht nur deshalb zu sagen, weil die Gruppe in seinem Haus unter Vertrag steht. „Das waren die ersten Letten der neuen Zeit, die in Europa wahrgenommen wurden. Das ging ans Herz.“
So viel unumstrittene Zuneigung ist Marie Naumova nie zuteil geworden. Aber erstens scheut sie jeden Versuch, sich als Sängerin sexyer zu positionieren, denn „meine Stimme zählt, sonst nichts“, und zweitens wirkt sie insgesamt kühler. Trotzdem lag sich Lettland in der Nacht zum 26. Mai vorigen Jahres in den Armen, als ebendiese Entertainerin mit „I Wanna“ in Tallinn den Grand Prix Eurovision gewann. Hupkonzerte auf dem Aspazijas bulvaris, der Schneise zwischen Altstadt und dem Rest – so laut wie seit der Unabhängigkeit nicht mehr. „Ich glaube, die Leute waren sehr zufrieden mit mir – und ich stolz auf Lettland“, sagt sie. Und schränkt ohne Atempause ein: „Ich singe aber normalerweise andere Lieder.“ Französische Chansons, oder Bossa, wie auf ihrem jüngsten Tonträger.
Wir treffen sie in einem Hotel in der Altstadt. Sie ist in Eile. Nun, hatte sie den Eindruck, dass sie als russischstämmige Künstlerin in Lettland Probleme hat? „Ich würde sagen, jüngere Leute sehen Russen nicht mehr als Okkupatoren. Ich habe mich um solche Dinge sowieso nie gekümmert.“ Das klang zwar vor einem Dreivierteljahr bei ihrer Siegespressekonferenz in Tallinn noch anders, als sie stolz darauf war, auch die russische Seite Lettlands gezeigt zu haben, aber der Spruch, der von Herzen zu kommen schien, kam vor allem in Riga nicht so toll an.
Die studierte Juristin und Schauspielerin wirkt seltsam müde. Hatte sie ein tolles Jahr? Überall gefeiert zu werden, war das nichts? Ja. Natürlich. Gewiss. Alles klingt vernünftig. Wie ein Star, der wieder Sternchen wird. Anders als Brainstorm, deren Mitgliedern alles Party scheint. Marie Naumova ist vielleicht auch alles ein wenig zu viel gewesen: „Vieles hat sich für mich geändert.“ Was denn genau? „Vieles eben.“
Brigita Stroda wirkt von derlei Ratlosigkeiten in eigener Sache ziemlich unangefochten. Die Assistentin des Operndirektors, weißes Haar, irgendein Alter in den Dreißigern, bizarre Ohrclips, beim Spaziergang durch die Stadt mit Pelzcape auf dem Kopf, eine beeindruckende Erscheinung, wurde in Australien geboren. „Ich hätte mich nie als lettische Australierin oder australische Lettin bezeichnet. Unsinn. In Australien kann man sagen, ich bin Lettin. Der Reisepass ist ein Dokument, sonst nichts.“ Ob Riga ihre Heimat sei? Ehrensache. Mit Lettisch ist sie in Australien aufgewachsen. Und nach der Perestroika kam sie als studierte Kunstwissenschaftlerin ins Land ihrer Eltern, „um beim Aufbau mitzuhelfen“. Australien? „Sie haben keine weißen Haare. Wissen Sie, in Australien mit der vielen Sonne sind natürliche weiße Haare ungünstig.“
Aufbauhilfe leistet sie jetzt an der Oper. Habituell unterscheidet sie sich in nichts von anderen Frauen in Deutschland, Schweden oder Spanien. Sie ist Single, lebt samt Katze in einer großen Wohnung, hat ein Abonnement für ein Fitnessstudio und geht gern in eine der vielen, vielen Clubs in der Stadt. „Mein Leben ist in meiner Hand.“ Möchte sie in Riga bleiben? Sehr bedächtig antwortet sie: „Das kann ich nicht sagen.“ In welcher Stadt würde sie sich am wohlsten fühlen? Sie sagt so klar wie spontan: „London.“
Warum? „Wissen Sie, hier in Lettland sieht alles so homogen aus. Die gleichen Klamotten, die gleichen Gesichter, die gleichen Einkaufstaschen, die gleichen Frisuren. In London gehe ich irgendwo auf die Straße und treffe alles, was der Regenbogen hergibt. Menschen im Businessdress, Junkies, Arbeiter im Blaumann, Punks, Ladys in Seidenstrümpfen, gehetzte Broker am Imbiss und Hausfrauen mit spektakulären Make-ups, Schwule in Lederklamotten und gepiercte Schülerinnen. Das macht mich manchmal sehnsüchtig. Gerade im Winter, wenn es in Riga immer nur grau ist.“
Wünsche nach mehr als einem Einerlei werden in Riga seit zwölf Jahren ziemlich kultiviert. Möglich, dass Brigita Stroda irgendwann selbst London nicht mehr vermisst.
JAN FEDDERSEN, 45, ist taz.mag-Redakteur. THOMAS MÜLLER, 41, lebt als freier Fotograf in Hamburg und Jesteburg