Falsch gerechnet

Industrie: EU-Chemiepolitik, die besser vor den Giften schützen will, kann Deutschland 2,35 Millionen Jobs kosten. Ökonomen: Unseriös

von HANNA GERSMANN

Die europäische Chemiepolitik droht Deutschland in die Rezession stürzen, warnte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) kürzlich. Der Verband irrt, entgegnete am Donnerstag der Präsident des Umweltbundesamtes, Andreas Troge, bei der Präsentation von Ergebnissen eines Expertengesprächs zum Thema. Weil die EU dafür sorge, dass Chemikalien sicherer werden, könnten Haftungsrisiken sowie Kosten für Chemiekranke gemindert werden.

Bislang mussten Behörden der Chemieindustrie eine Gefahr nachweisen, wollten sie einen Stoff verbieten. Bevor Chemikalien auf den Markt kommen, werden sie nicht zwingend getestet. Das will die EU-Kommission nun ändern und im April einen Entwurf für ein neues Chemikalienrecht vorlegen. Können BASF, Bayer oder Höchst-Nachfolger Celanese nicht belegen, dass ihre Stoffe unbedenklich sind, müssen sie dann damit rechnen, für die Herstellung keine Erlaubnis zu bekommen.

Den Chemiekonzernen schmecken die Brüsseler Pläne nicht. Der BDI ist sich einig mit dem Verband der chemischen Industrie (VCI), dass es viel zu teuer sei, rund 30.000 bereits im Gebrauch befindliche Chemikalien zu testen. Denn es geht nicht nur um den kleinen Anteil der Stoffe, die neu auf den Markt kommen. Brüssel erfasst auch Chemikalien, die schon seit mehr als zwanzig Jahren verkauft werden.

Der BDI beauftragte die Unternehmensberatung Arthur D. Little, die wirtschaftlichen Folgen zu untersuchen. Die befragte Chefs aus den Branchen Textil, Elektro, Auto, Papier und Chemie und kam im November zum Schluss: Im schlimmsten Fall gehen 2,35 Millionen Jobs verloren.

Eine „Hochrechung von Ängsten“ sei das, sagt die Ökonomin Sylvia Schwermer vom Umweltbundesamt. „Methodisch nicht tragfähig und damit nicht verwertbar“, urteilten unisono Vertreter von renommierten Wirtschafts- und Forschungsinstituten wie dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin oder dem Münchener ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung Anfang des Monats bei einem Fachgespräch des UBA (Protokoll unter www.umweltbundesamt.de). Die Unternehmensberater hätten die positiven Wirkungen der Stoffpolitik „einfach ausgeblendet“. Dabei müsse, wer sichere Chemikalien anwende, z. B. weniger Geld für Arbeitsschutz ausgeben, habe ein geringeres Haftungsrisiko und gewänne die Verbraucher für sich. Die Industrie aber denkt nicht an sichere Alternativen: Zumindest rechneten die Unternehmensberater vor, zu welchen Kostenausfällen ein Stoffverbot führt, weil ein Produkt dann gar nicht mehr hergestellt werden kann. Offenbar kann sich die sonst so innovative Branche Ersatzstoffe nicht vorstellen.