: Verfassungsgericht hat ein Leck
Auch die Vorabberichte über das Platzen des NPD-Verfahrens beruhen vermutlich auf einer Indiskretion aus Karlsruhe. Ehrenkodex der Gerichtsjournalisten gilt in Berlin nicht
FREIBURG taz ■ Mangelnde Transparenz kann man dem Verfassungsgericht derzeit wirklich nicht vorwerfen. Schon Wochen vor der Verkündung werden wichtige Urteile bekannt. So war es bei der Wehrpflicht-Entscheidung im letzten März, bei der Annullierung des Zuwanderungsgesetzes und jetzt wieder beim Scheitern des NPD-Verbots.
Auch beim NPD-Verfahren muss es ein Leck unter den 16 Richtern und rund 60 wissenschaftlichen Mitarbeitern gegeben haben. Denn das Argument der ARD, man habe aus der Art, wie das Gericht die „Entscheidung“ angekündigt hat, auf das Ergebnis geschlossen, nimmt in Karlsruhe niemand ernst. „Daraus können Sie wirklich keinen Honig saugen“, erklärte Vizepräsident Winfried Hassemer am Donnerstagabend. Dennoch gehen alle Beobachter davon aus, dass das NPD-Verfahren platzen wird – auch die Anwälte der drei Antragsteller – Bundesregierung, Bundesrat und Bundestag.
Das Gericht selbst kann die Gerüchte weder bestätigen noch dementieren. „Wir beteiligen uns nicht an Spekulationen“, sagte Präsident Hans-Jürgen Papier lapidar. Dabei sind für Karlsruhe die Indiskretionen nicht nur nachteilig. Die Öffentlichkeit hat Zeit, sich an unbequeme Entscheidungen zu gewöhnen. Vielleicht rückt am Tag des offiziellen Richterspruchs sogar das Interesse für die Begründung eines Urteils in den Vordergrund.
Denn auch im NPD-Verfahren sind noch viele Fragen offen. Warum hat das Gericht den Antragstellern keine Möglichkeit zur Nachbesserung ihrer Anträge gegeben? Liegt das Verfahrenshindernis in der Vielzahl der in NPD-Vorständen platzierten Spitzel (jedes siebte Vorstandsmitglied in Bund und Ländern soll ein V-Mann gewesen sein)? Oder sind die Antragsteller gescheitert, weil sie auch nach Verfahrensbeginn noch den V-Mann Udo Holtmann im Bundesvorstand spitzeln ließen und so die Prozessstrategie der Partei der Ausforschung offen stand?
Misslich ist die Lage nicht nur für Politik und Justiz. Auch Karlsruher Journalisten sind unruhig. Eine Art „Ehrenkodex“ verbietet es, über Urteile vorab zu berichten. So geriet der Focus-Autor, der die Wehrpflicht-Entscheidung bereits drei Tage vor Verkündung hinausposaunt hatte, im letzten Sommer unter den massiven Druck vonseiten seiner Kollegen. Seither kommen die Vorveröffentlichungen über Berliner Umwege, und die Karlsruher Korrespondenten können nur die Faust in der Tasche ballen.
Immerhin passieren bei der stillen Post manchmal auch peinliche Fehler. So meldete Bild am Sonntag vor der Zuwanderungs-Entscheidung, alles hänge an Richterin Gertrude Lübbe-Wolff. Tatsächlich war sie dann aber nicht die wankende achte Stimme, sondern Anführerin des Sondervotums der Linken im Senat. CHRISTIAN RATH