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Archiv-Artikel

Und täglich grüßt das Murmeltier

Nach 365 Tagen, tausenden von Textbeiträgen und unzähligen Sitzungsstunden steht der EU-Konvent, der die Union reformieren soll, wieder am Anfang

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Im Provinznest Punxsutawney ist der Fernsehjournalist Phil Connors, der über das volkstümliche Ritual des Murmeltierweckens zu Frühlingsbeginn berichten soll, in eine Zeitschleife geraten. Solange er an seiner zynischen Lebenseinstellung festhält – so die Moral des zum Kultfilm avancierten Streifens –, wird er jeden Morgen vom gleichen Radioprogramm geweckt und durchlebt den immer gleichen Tag.

Der Konvent, der sich seit exakt einem Jahr müht, die Europäische Union neu zu erfinden, hält Kulisse, Requisiten und Personal für einen ähnlichen Albtraum bereit. Da ist zunächst der Frühling, der dieser Tage heftig und viel zu früh über Europas Hauptstadt hereingebrochen ist. Er scheint den alten Konventspräsidenten so viel Kraft zu kosten, dass er sich oft nicht einmal überwinden kann, die Kopfhörer aufzusetzen, wenn ein Redner, der schon mehrmals renitent in Erscheinung getreten ist, das Wort ergreift.

Doch das passiert ohnehin selten. Wie in Trance ließen die 105 Konventsmitglieder am Donnerstagnachmittag einen länglichen Monolog von Giscard d’Estaing über sich ergehen, in dem er ein zweites Mal erläuterte, was sich das Präsidium bei den ersten sechzehn Verfassungsartikeln gedacht hat. Ende letzten Jahres hatte er ähnlich ausführlich über die Gliederung der gesamten Verfassung lektoriert und bei der Sitzung Anfang Februar dieses Jahres den Entwurf für den ersten Teil, der Werte, Ziele, Kompetenzen sowie die Unionsbürgerschaft definieren soll, schon einmal begründet.

Inzwischen liegen allein zu diesen sechzehn Artikeln über tausend Änderungsanträge vor. Sie sind im Internet abrufbar, und jeder Delegierte konnte sie in zwei dicken Stapeln auch schwarz auf weiß mit nach Hause nehmen. Die Fülle an Vorschlägen sei kein Grund zur Panik, erklärte der Präsident in einem Anflug von Fröhlichkeit. Das abweichende Meinungsbild seiner Konventionalisten scheint für ihn denselben Stellenwert wie die Irakkrise zu haben: Die werfe „einen Schatten und Ängste auf unsere Arbeiten“ – die aber unbeirrt ihren Lauf nehmen müssen.

Und die Delegierten – als seien sie tatsächlich in einer Zeitschleife gefangen – lassen sich brav auf die Rednerliste setzen und beginnen mit der Grundsatzdebatte wieder ganz von vorn: Wird es ein Europa der Staaten, der Völker oder der Bürger sein? Darf das Wort „föderal“ in der Verfassung vorkommen? Sollen das Sozialstaatsgebot, die Gleichheit der Geschlechter, Vollbeschäftigung und Umweltschutz als Werte und Ziele in die vorderen Artikel geschrieben werden?

Und täglich grüßt das Murmeltier: Die meisten dieser Fragen hatte der vorangegangene Konvent unter Roman Herzog bereits in einem mühsamen Prozess beantwortet und das Ergebnis in die Grundrechtecharta geschrieben. Würde man sie – wie von vielen Delegierten gefordert – der neuen Verfassung voran stellen, könnte sich der Konvent endlich den wirklich strittigen Fragen der Machtverteilung zuwenden.

Phil Connors, der unglückliche Held aus dem Zeitschleifenfilm, erlebt seinen Albtraum vor dem Hintergrund des täglich wiederkehrenden Irrwitzes von Hörfunk und Fernsehen. Der prägt seit Neuem auch den Alltag der Konventionalisten. Während die meisten von ihnen sich seit Monaten als Einzelkämpfer, allenfalls von einem kleinen Mitarbeiterstab unterstützt, durch die Aktenberge kämpfen, unermüdlich Eingaben schreiben und um öffentliche Aufmerksamkeit werben, leben die Politstars in einem anderen Universum.

Wenn die anderen Delegierten längst auf ihren Plätzen im Brüsseler Parlament sitzen, sind die Außenminister in ihren Hauptstädten noch unabkömmlich. Bei ihrer Ankunft – oft mit einigen Stunden Verspätung – ist dennoch höchste Aufmerksamkeit garantiert. Dafür sorgt ein Pulk drängelnder Kamerateams und ein Blitzlichtgewitter, das sogar Vizepräsident Jean-Luc Dehaene, der meist oben auf dem Präsidiumspodium döst, aus seinen Träumen reißt.

Wenn ein Außenminister den Konvent mit seiner Anwesenheit beehrt, kommt er meist bald darauf auch zu Wort. Giscard d’Estaings Regie sorgt dafür, dass die wichtigen Herren und auch Ana Palacio aus Spanien ihre kostbare Zeit nicht zuhörend vertun müssen. Der minimale Aufwand wird mit maximaler Aufmerksamkeit belohnt. Das Stichwort EU-Konvent war die deutschen Presseagenturen gestern sieben Meldungen wert – in allen spielt Joschka Fischers Einschätzung der Irakkrise und seine Mahnung, den Zeitplan des Konvents nicht zu gefährden, die Hauptrolle.

Der deutsche Außenminister hat natürlich noch gar nicht gemerkt, dass der Konvent in eine Zeitschleife geraten ist. Dazu müsste er sich den Film etwas länger ansehen. Und selbst dann dürfte es für ihn nicht leicht sein, den Überblick zu behalten. Über den Wolken, auf dem Weg zum UN-Sicherheitsrat, oder – zurück aus New York – im Landeanflug auf Berlin oder Brüssel, bewegt er sich ohnehin ständig zwischen den Zeitzonen.

Ungarn, Tschechien, Litauen sowie einige polnische und slowakische Delegierte haben beantragt, den Konvent bis Oktober zu verlängern, damit die Kandidaten – nach Abschluss ihrer Referenden – als vollwertige Mitglieder mit abstimmen können. Auch sie werden sich bald nichts sehnlicher wünschen, als die Zeitschleife endlich verlassen zu dürfen. Das ging auch Phil Connors so, nachdem er sich zunächst ungestraft ganz schön ausgetobt hatte, ohne am nächsten Tag die Folgen tragen zu müssen. Irgendwann wollte er, dass es weitergeht – egal wie. Er musste dafür seinen zynischen Fatalismus aufgeben. Vielleicht sollte Giscard mal ins Kino gehen, damit er sieht, welches Schicksal ihm droht.