piwik no script img

Archiv-Artikel

Das Ding braucht nur sich selbst

Spiegelnde Oberflächen verführen, weil sie die Wirklichkeit verschlungen haben: Die Ausstellung „Die Abwesenheit der Welt“ in der Kunsthalle Fridericianum in Kassel zeigt hundert Fotografien des französischen Theoretikers Jean Baudrillard

von SUSANNE MESSMER

Ein Haus liegt im goldenen Abendlicht, darüber dunkellila Wolken, dramatisch: „Bergerie 1998“. Eine Treppe führt an einer zerfallenen Mauer vorbei, das Licht diesmal kupfern, mit langen Schattenwürfen, pittoresk: „Brasilien 1986“. Ein Stück Plane, ein bisschen spiegelnd, ein bisschen durchscheinend, das raffinierte Davor und Dahinter einer Baustelle, „Paris 2003“. Es sind schöne Bilder, die hier zu sehen sind, Bilder wie aus dem Reisealbum ambitionierter Hobbyfotografen, die man sich gern übers Sofa hängt – aber auch Bilder, die überraschen, denn schließlich befinden wir uns nicht einer Ausstellung des Fotoklubs Ehningen oder Holzminden. Wir befinden uns in einer Ausstellung mit Fotos von Jean Baudrillard, dem berühmten Theoretiker und Melancholiker, dessen düstere Diagnose von der Auflösung der Wirklichkeit in der Simulation der Medien heute zum gepflegten Partygespräch gehört wie die Argumente der Globalisierungsgegner oder der Niedergang von Michael Jackson.

Betrachtet man die Fotos von Jean Baudrillard, die er seit Anfang der Achtziger bevorzugt auf Reisen macht und die im Fridericianum in der Documenta-Stadt Kassel zum ersten Mal in Deutschland zu sehen sind, wird man das Klischee vom Denker der Posthistorie, der kein gutes Haar an Informationsgesellschaft und radikaler Reproduzierbarkeit lässt, durchlüften müssen. Man versinkt in den gut gelaunten Schnappschüssen, den wunderschönen Farbexplosionen, in Stillleben von verwitterten Zäunen und krummen Bordsteinen, von rostigen Eisengittern und anderem malerischem Müll wie nichts, in lauter Dingen am Rande, die nicht viel aussagen über den Ort, an dem sie sind, die nicht viel bedeuten und uns gerade deshalb fröhlich zuwinken. Es ist, als ob sie uns nicht brauchten – und auch sonst nichts außer sich selbst.

Da Baudrillard viele seiner unbeschwertesten Fotos in Amerika gemacht hat, denkt man kurz an sein beschwingtes Buch „Amerika“, das er Anfang der Achtzigerjahre schrieb, das sich liest wie ein heiteres Stück Reiseliteratur und bei dem man sich schon immer fragte, wie einer, dem so viel Pessimismus nachgesagt wird, sich plötzlich für die „Marmorglätte der Wolkenkratzer“, „die unbefleckte Oberfläche“ des Salt Lakes und die „Glasfassaden der Hotels“ in New York begeistern konnte – wie sich ein Kulturkonservativer wie Baudrillard derart mit den Banalitäten der Alltagskultur vergnügen kann. Aber Baudrillard verdammt eben nicht nur, was er sieht, er lässt sich auch immer von den spiegelnden Oberflächen verführen, die, wie er denkt, die Wirklichkeit verschlingen. Es geht ihm um die Verdoppelung der obszönen Wucherung der Simulakren, um Bejahung als fatale Strategie der Subversion, es geht ihm aber auch um eine von Bedeutung befreite Sinnlichkeit, die im System der Medien nicht zu haben ist, aber im Medium selbst vielleicht schon. Eine fröhliche Seite Baudrillards, die auf besagten Partygesprächen oft zu kurz kommt.

Liest man die wenigen Schriften Baudrillards zur Fotografie, von denen eine im enttäuschend schmalen Katalog zur Ausstellung in Kassel erschienen ist, dann bestätigen sich alle Vermutungen, die sich spontan bei der ersten Wahrnehmung seiner Fotos einstellen. Die meisten Bilder sind nur Ausdruck für etwas anderes, schreibt Baudrillard dort, sie dienen der Dokumentation, Information, Werbung. Echte Bilder – Bilder wie seine – dagegen, sind „wichtiger als das, wovon sie sprechen“, sie entkommen der Interpretation, bezeichnen kein Ereignis, sondern sind selbst ein Ereignis – und das nicht obwohl, sondern gerade weil ihnen genommen wurde, was Walter Benjamin mit dem Begriff der Aura beschrieben hat, ihr Gewicht, ihr Geruch, ihre Räumlichkeit und Zeit, wie Baudrillard sagt.

Baudrillards Idee vom Bild als kleinem Tod, das den Moment festhält, in dem sein Objekt verschwindet – das Objekt war in der Sekunde, als es fotografiert wurde, da, jetzt ist es nicht mehr da – erinnert dabei stark an eine der bekanntesten Denkfiguren des zweiten noch lebenden Theoretikers des Poststrukturalismus, an Jacques Derridas Idee einer Spur, die von einer Wirklichkeit hinterlassen wird. Einen entscheidenden Unterschied allerdings gibt es zwischen Baudrillards Bildern und Derridas Spur: Während Derrida annimmt, dass die Wirklichkeit, die eine Spur hinterlassen hat, nie hier und jetzt als präsent wahrgenommen werden kann, bleibt Baudrillard der Vorstellung verhaftet, dass es im Augenblick der Abbildung eine Konfrontation des Subjekts mit der Wirklichkeit gegeben haben muss. So sehr hängt Baudrillard an der Vorstellung des Abbilds, dass er, anstatt sie als noch bessere Möglichkeit der Darstellung des Verschwindens zu begreifen, die Bilder der neuen Medien abwerten muss. Bilder, die kein reales Vorbild haben, sind für ihn nach wie vor der Untergang des Abendlandes.

Doch ginge es bei Jean Baudrillard immer nur darum, alles zu Ende zu denken, widerspruchsfrei und logisch zu sein, würde ein Gang durch die Ausstellung seiner Fotografien sicher kaum halb so viel Spaß bringen. Will man die Poesie seiner Texte genießen, sollte man sich dringend vom Zwang verabschieden, immer alles logisch aufeinander beziehen zu müssen. Will man in der stillen Schönheit seiner Fotos schwelgen, in dieser Schau der Materialien, in der nur selten ein Mensch auftaucht, dann sollte man nicht versuchen, ihnen den Sinn aufzubürden, der ihnen zuvor mühsam ausgetrieben wurde. Sie sollen einfach nur schön sein, richtig schön und ein bisschen schöner sogar als die Bilder vom Fotoklub Holzminden.

Bis 29. Februar, Katalog 15 Euro