: Der Wandel und die Chancen
Das große Thema auf der Grünen Woche ist Europas Zukunftsperspektive: Zehn Länder werden im Mai der EU beitreten. Das wird vieles verändern. Noch überwiegen vielerorts die Ängste. Aber der Wandel birgt für alle Beteiligten auch Chancen
VON OLE SCHULZ
Wenn zum Tag der Arbeit am 1. Mai zehn weitere Länder in die Europäische Union aufgenommen werden, dürfte die Zeit des Lamentierens vorbei sein. Dann wird sich konkret zeigen, welche Konsequenzen die EU-Erweiterung für die Mitgliedstaaten hat. Gerade im Bereich der Landwirtschaft überwiegen dabei bisher auf beiden Seiten die Ängste – im Westen davor, von Ost-Billigprodukten überschwemmt zu werden, und bei den osteuropäischen Beitrittsländern wie Polen, Tschechien und Ungarn angesichts der zunächst höheren Agrarsubventionen im Westen. So demonstrierten Landwirte sowohl in Deutschland als auch in Tschechien gegen die EU-Erweiterung.
Sicher ist derzeit allenfalls, dass dem Agrarsektor in Osteuropa ein schmerzhafter Anpassungsprozess bevorsteht, bei dem voraussichtlich mindestens einige hunderttausend Arbeitsplätze verloren gehen werden. Tatsache ist aber auch, dass in Deutschland heute schon gerne polnischer Apfelsaft getrunken und ungarische Salami verspeist wird, ohne dass das irgendwo Anstoß erregt. Warum auch? Wirtschaftliche Beziehungen müssen keinesfalls immer Anlass zur Empörung sein. So würde auch bei den brandenburgischen Landwirte das große Jammern ausbrechen, wenn ihnen nicht polnische Saisonarbeiter bei der Obst- und Gemüseernte zur Hand gehen würden.
EU-Politiker wiederholen derweil immer wieder gebetsmühlenhaft, dass die Erweiterung nicht nur für Europa insgesamt, sondern auch für die Beitrittsländer mehr Chancen als Risiken biete: Während der Westen von einem neuen Markt mit 75 Millionen Verbrauchern profitieren könnte, werde im Osten ein notwendiger Rationalisierungs- und Konzentrationsprozess in der Landwirtschaft vorangetrieben. EU-Agrarkommissar Franz Fischler sieht Exportmöglichkeiten für die westliche Lebensmittelindustrie aufgrund im Osten zu erwartenden Nachfragesteigerung nach hoch verarbeiteten Qualitätsprodukten wie Käse und Fleisch, während sich die Landwirte der Beitrittsländer mit dem „preisgünstigen Anbau von Futtergetreide, Raps und nachwachsenden Rohstoffen“ profilieren könnten. Über diese Fragen wird auch auf dem „11. Ost-West-Agrarforum“ auf der Grünen Woche diskutiert werden. Das Treffen, das sich zur wichtigsten agrarpolitischen Veranstaltung der Grünen Woche entwickelt hat, findet dieses Jahr unter dem Motto „Weltagrarhandel – Perspektiven für die erweiterte EU und ihre neuen Nachbarn“ statt.
Unabhängige Fachleute beurteilen die Sachlage nüchtern – und vorsichtig: „Landwirte neigen generell dazu, ihre Lage zu dramatisieren, weil sie immer mit natürlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben“, sagt Klaus Reinsberg vom Institut für Agrarentwicklung in Mittel- und Osteuropa (Iamo) in Halle. Die Frage der Agrarpolitik gerate bei der EU-Erweiterung auch deshalb ins politische Fahrwasser, weil die Landwirtschaft europaweit vor einem Strukturwandel stehe. Chancen für die Beitrittsländer sieht Reinsberg nicht zuletzt in dem bevorstehenden Wissens- und Technologietransfer. „Durch höherwertiges Saatgut und bessere Düngemittel ist eine Ertragssteigerung zu erwarten, ähnlich wie sie in den neuen Bundesländern nach dem Mauerfall stattgefunden hat“, so Reinsberg. Und Ostdeutschland, wo die Umstrukturierung der Landwirtschaft alles in allem erfolgreich verlaufen sei, ist laut Reinsberg ein Vorbild, an das man nun anknüpfen könne – etwa in Tschechien, wo von der Größe der Betriebe her ähnliche Voraussetzungen bestehen wie in den neuen Bundesländern. In Polen sei die Lage allerdings komplizierter, angesichts der großen Zahl von Kleinbauern sind die sozialen Probleme erheblich größer. „Hier kommt es darauf an, über einen längeren Zeitraum neue Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen.“ (Siehe auch Seite II.)
Für den Grünen-Europabgeordneten Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf wird entscheidend sein, „wie die im Sommer 2003 beschlossene Reform der EU-Agrarpolitik im Osten umgesetzt wird“. Ab 2005 wird demnach die lange überfällige Entkoppelung der Prämienzahlungen von der Produktionsmenge anlaufen. Damit sollen die EU-Agrarsubventionen allmählich in Richtung eines ökologischen Landbaus gelenkt werden. „Seit der BSE-Krise hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden“ – weg von der Massenproduktion, hin zur Qualität der landwirtschaftlichen Güter – und „damit bekommt auch der Erhalt regionaler Existenzwirtschaften einen positiven Touch“, so Graefe zu Baringdorf. Das sei gerade für ein Land wie Polen eine Chance, wo etwa die Mehrheit der 750.000 Milchbauern lediglich zwei bis drei Milchkühe halten. „Allerdings wird es schwierig sein, auf Dauer von der Subsistenzwirtschaft zu leben. Darum ist eine Diversifizierung wichtig, zum Beispiel durch Förderung des Tourismus in ländlichen Gebieten.“ Zur Förderung strukturschwacher Regionen will die EU – durch Umschichtung eines Teils der Direkthilfen – jährlich 1,2 Milliarden Euro bereitstellen. Bei einem Gesamtvolumen von rund 40 Milliarden Euro EU-Agrarsubventionen pro Jahr ist diese Summe allerdings nicht mehr als ein Anfang.
Umstritten bleibt das Vorpreschen westlicher Lebensmittelkonzerne und ausländischer Großbauern in den Osten. Laut Reinsberg vom Iamo ist das „nicht grundsätzlich zu verdammen“. Direktinvestitionen seien allein deshalb notwendig, weil diese Länder eigenkapitalschwach sind. „Auch in Ostdeutschland war anfänglich die Angst groß, die Holländer würden alles aufkaufen“, was aber nicht geschehen sei. Gleichwohl bleibt das ausländische Engagement eine heikle Angelegenheit; während der Landkauf durch Ausländer in Tschechien gesetzlich untersagt ist, wird in West-Ungarn bereits fast ein Viertel des Ackerlandes von Deutschen und Österreichern bewirtschaftet. Es sei die „Kunst der Politik“, so Reinsberg, „das ausgewogen zu gestalten“.
Die Probleme, welche die Landwirte der osteuropäischen Beitrittsländer zurzeit am meisten bewegen, sind jedoch andere: Nach dem letzten EU-Erweiterungsbericht werden zum Beispiel die Hygienevorschriften in vielen polnischen Molkereien und Fleischereibetrieben noch nicht eingehalten. Sowohl in Polen als auch in Ungarn und der Slowakischen Republik besteht die Gefahr, dass die Direkthilfen nicht fristgerecht ausgezahlt werden können, weil sich die entsprechenden organisatorischen Strukturen erst im Aufbau befinden. „Es ist ein gewaltiger Verwaltungsaufwand, das braucht Zeit“, urteilt Reinsberg. Er hält die – umstrittenen – Direkthilfen dennoch nicht nur aus sozialen Gründen für notwendig. „Es ist auch prinzipiell im Interesse der EU, wenn sich die Beitrittsländer zu gleichwertigen Partnern entwickeln.“
Dem grünen Agrarexperten Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf bereitet es ebenfalls „nicht so sehr Sorge, dass das Geld überhaupt verteilt wird, sondern bei wem es ankommt“ – ob es der Förderung einer kleinteiligen, bäuerlichen Landwirtschaft diene oder allein der Konzentration der Agrarindustrie. „Diese Auseinandersetzung läuft derzeit noch.“