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Archiv-Artikel

Apocalypse Wow!

Wer soll noch lesen in Guben und Gubin, wenn alle gehen und die Fabriken schließen, auf der deutschen wie der polnischen Seite? Gregor Mirwa will es wissen und setzt auf Joseph Conrad

In Gubin gaben sich Schmuggler, Zuhälter und Mafia ein StelldicheinIn Guben ist die Zeit der intellektuellen Experimente schon lange vorbei

von UWE RADA

Es gibt Kunstwerke, die überraschen nicht durch ihren Inhalt, sondern durch den Ort, an dem sie stehen. In der Brandenburger Grenzstadt Guben findet man mitten auf der Frankfurter Straße, die vom abgewickelten Areal der „Gubener Hüte“ zum Grenzübergang nach Gubin führt, eine einfache Holzbank, zu beiden Seiten eingefasst von zwei Lesenden aus Metall. Platt gemacht sehn die aus, wie so vieles in der Niederlausitz. Nur die Bücher, in die die Lesenden versunken sind, sind plastisch. Wer vor der Skulptur steht, fragt sich unweigerlich: Wer liest in Guben überhaupt, in einer Stadt, der 10.000 der einst 38.000 Einwohner den Rücken gekehrt haben?

Diese Frage beschäftigt auch Gregor Mirwa. Vor sechs Jahren war der Arzt einer der wenigen, den es nach Guben verschlagen hat, und das sogar freiwillig. Mirwa hatte sich auf eine Stelle als Arbeitsmediziner beworben. Von Kreuzberg an die polnische Grenze, das war nicht ganz einfach, erinnert er sich. „Mein erster Eindruck war, dass die leeren Straßen in einem seltsamen Verhältnis zur räumlichen Ausdehnung der Stadt standen.“

Doch Mirwa, den der Arztberuf genauso fesselt wie die Kultur, fand in Guben nicht nur abgeräumte Industrieanlagen, sondern auch die „Fabrik“, ein Jugend- und Kulturzentrum gleich neben dem Bahnhof. „Dort traf ich jemanden“, sagt Mirwa, „der mir ein Angebot machte, das ich schon lange nicht mehr gehört hatte. Er sagte: ‚Hier wirst du immer ein gutes Gespräch finden.‘ “

Es war dieser Nachmittag vor sechs Jahren, an dem „Le Weekend“ geboren wurde, ein ungewöhnliches Kulturfestival, bei dem die Welt seitdem nach Guben kommt und Guben einmal in die Welt. „Le Weekend“, sagt der 40-jährige Mirwa, „ist Hommage an den gleichnamigen Film von Jean Luc Godard. Es ist Alltag, die Verbindung von Kultur und Politik. Und es ist die Brücke nach Gubin. Schließlich ist Weekend auch das polnische Wort für Wochenende“. An diesem Wochenende nun beginnt „Le Weekend“ zum vierten Mal. Das Motto: „Guben/Gubin liest“.

„Wer soll hier lesen?“, fragt sich auch Jolanta Kucharska. Die energische Mitvierzigerin sitzt im „Tercet“, dem Rathausrestaurant an der Gubiner Westerplatte, und möchte am liebsten alles in Frage stellen. „Glaubst du, dass die Gubiner rüber auf die deutsche Seite gehen und sich das Buch abholen?“, fragt sie Gregor Mirwa. Der lächelt etwas verlegen, kommt aber nicht zu Wort. „Gregor! Konsum kannst du den Gubinern anbieten, aber glaub doch nicht, dass die von sich aus aktiv werden. Die haben andere Sorgen. Alles ist hier zu, hörst du, der Bahnhof ist zu, die Landwirtschaftsschule, und dann sollen die auch noch ein Buch lesen?“

Das Buch, das ist Joseph Conrads 1902 erschienene Novelle „Herz der Finsternis“, in der der Autor mit dem ursprünglichen Namen Józef Teodor Konrad Korzeniowski eine Reise ans Ende der Welt beschreibt. Für Mirwa ist dieser Text mehr als nur ein Stück polnisch-amerikanische Literaturgeschichte. Er ist auch eine Metapher für die Grenzstädte Guben und Gubin. „Bei Conrad geht es um Grenzerfahrungen, um die eigene Grenze, die der Held bei seiner Flussreise in den Dschungel immer wieder überschreitet.“

Was also liegt näher, dachten sich Mirwa und seine Mitstreiterin Saskia Draxler, als die Bewohner von Guben und Gubin zu bitten, ihre Leseerfahrung, ihre Kommentare und ihr Kopfschütteln zu notieren. 1.500 Bücher, in deutscher und polnischer Übersetzung, werden ab Freitag auf beiden Seiten der Neiße verteilt. „Das Herz der Finsternis als Thema beim Friseur, auf dem Schulhof, in der Kantine oder Familie“, schwärmt Mirwa. „1.500 Leser und 1.500 Meinungen, sicherlich aber noch viel mehr.“

Oder aber gar keine. Die Stimmung in Guben ist schlecht, manche sagen sogar beschissen. In Gubin ist sie nicht viel besser. Das haben auch Gottfried Hain und Mirosław Fiedorowicz zu spüren bekommen. Jahrelang haben die beiden Bürgermeister versucht, aus Guben und Gubin eine europäische Modellstadt zu machen, haben einen gemeinsamen Stadtentwicklungsplan verabschiedet, ein gemeinsames Klärwerk gebaut, eine Europaschule gegründet. Einen europäischen Preis nach dem andern haben sie kassiert, bis sie vor zwei Jahren abgewählt wurden. „Mit der deutsch-polnischen Partnerschaft kann man zwar einige Intellektuelle begeistern, aber nicht die Menschen hier in der Stadt“, zog Hain ein bitteres Fazit.

Jolanta Kucharska weiß das, noch immer schüttelt sie den Kopf. „Gregor“, sagt sie, „Gregor.“ Doch Gregor Mirwa will es wissen. Jolanta Kucharska hat es auch nicht anders erwartet. Sie hat ihre Bedenken formuliert, nun geht es an die Arbeit. „Okay“, sagt sie, „ich gehe zu den Direktoren der beiden Schulzentren, die müssen die Bücher in der Pause ausgeben. Den Entwurf für eine Pressemitteilung habe ich hier.“ Kucharska zeigt auf ein handbeschriebenes Blatt Papier. Mit dem Leiter des „Dom Kultury“, des Kulturhauses, hat sie schon gesprochen, der unterstützt das Projekt, sogar eine der beiden „langen Nächte“ wird es im Dom Kultury geben.

Wenn es um Gubin geht, schlagen in Jolanta Kucharskas Brust zwei Herzen. Einmal zweifelt sie, ob diese Stadt, in der sich nach der Wende Glücksritter, Schmuggler, Zuhälter, Prostituierte und Mafia ein Stelldichein gaben, überhaupt noch zu retten ist. Dann wieder unternimmt sie alles, um selbst den Gegenbeweis anzutreten.

So wie vor zwei Jahren, beim letzten Festival „Le Weekend“. „Daran erinnern sich noch viele in Gubin“, sagt Kucharska, „vor allem viele junge Leute.“ „Kommen. Gehen. Bleiben“ lautete das Motto damals. 16 Bewohner wurden befragt, warum sie bleiben wollen in Guben und Gubin, oder gehen. 16 Bewohner, das waren 16 vier mal vier Meter große Plakate auf Straßen, Plätzen und am Grenzübergang. Das waren 16 persönliche Statements und authentische obendrein, weil jeder nicht nur seine Meinung zum Besten gab, sondern auch sein Konterfei. So wie ein 32-jähriger Soldat der polnischen Armee. „Es gibt Zukunft in der Stadt, vielleicht jetzt noch nicht, aber in ein paar Jahren sicher.“ Oder Tomasz, ein Zeichner und Karikaturist: „In den letzten Jahren hat sich in Gubin vieles verschlechtert.“

„Das hat eingeschlagen“, sagt auch Gregor Mirwa, „da kam keiner dran vorbei. Auf fast jedes Plakat wurde etwas dazugeschrieben, mal ernst, mal auch mit Ketchup.“ Kommentare zum Text nannte er das damals schon. Nun klingt es, als könnte man einen Schritt weitergehen.

In der „Fabrik“ ist am frühen Nachmittag noch nicht viel los. Und wenn, dann hätte Karsten Geilich alles im Griff. In der Fabrik, wo Gregor Mirwa einst die Einladung zu einem „guten Gespräch“ bekommen hat, wird nicht gejammert, sondern gemacht. Das scheint Karsten Geilich mit seinem Bruder Gunnar, dem CDU-Abgeordneten und Stadtwerber, gemein zu haben, der die Idee zur Skulptur mit den Lesenden an der Frankfurter Straße hatte.

„Nach der Wende haben wir 25 Prozent unserer Kosten selbst erwirtschaftet, heute sind es 75“, zieht Geilich Bilanz. „Damals waren wir 18 ABM-Kräfte, heute sind es nur noch zwei.“ Geilichs Grinsen ist nicht zu übersehen, auch wenn der Vollbart das ganze Gesicht bedeckt. Einer wie er hat keine Zweifel, einer wie er denkt strategisch. „Veränderung kann auch eine Chance sein, man muss sie nur wollen.“ In der Fabrik in der Gubener Mittelstraße wird am 20. März eine der beiden langen Nächte stattfinden, in denen Gäste von außen aus Conrads Buch lesen werden. Anders als Jolanta Kucharska fürchtet Geilich nicht, dass „Le Weekend 4“ floppen könnte. Warum auch, die Plakate sind schließlich gedruckt, die Postkarten ebenfalls, die Presse ist informiert. Gemeinsam gehen Mirwa und Geilich die Gästeliste durch. „Die Leute kommen selbst von Hamburg hierher“, sagt Gregor Mirwa. Karsten Geilich blickt auf: „Sicher?“ Mirwa nickt. „Ich frag nur nach“, sagt Geilich, „wegen den Zimmern, müssen wir ja buchen, 17 Euro 50 die Nacht, du weißt ja, muss alles seine Ordnung haben.“ Es klingt fast so, als wäre Guben ausgebucht an diesem Wochenende.

Über das Zentrum von Gubin, das einmal das Zentrum von Guben war, als beide Städte noch nicht geteilt waren, weht der Wind. Noch immer stehen hier keine Häuser, sondern Buden, daneben die Ruine der ehemaligen Hauptkirche. Wie ein großer Basar wirkte die Stadt mit ihren 18.000 Einwohnern auf Gregor Mirwa, als er nach Guben kam. Was für viele Gubener ein Beweis ist, dass die Polen kein Interesse daran haben, das alte Zentrum wieder aufzubauen, war für Mirwa ein Hinweis auf eine andere Mentalität. „In Guben ist alles ordentlich, vieles ist renoviert, und trotzdem wirkt es tot. In Gubin dagegen ist alles noch immer heruntergekommen, dafür aber ist es hier lebendig.“

Wie zum Beweis seiner These erzählt er von den Sperrmüllaktionen, die jedes Jahr auf die gleiche Weise ablaufen. „Die Deutschen stellen am Abend ihren Sperrmüll auf die Straße, alles ganz ordentlich, bis dann in der Dämmerung die ersten Kundschafter aus Gubin kommen. Am nächsten Morgen sind dann die besten Sachen weg, abmontiert und auf den Leiterwagen gepackt.“ Mirwa weiß, dass die Gubener das mit gemischten Gefühlen sehen. Es ist schließlich nicht nur Armut, die sich hinter solchen nächtlichen Aktionen verbirgt, sondern auch ein gehöriges Maß an Eigeninitiative.

In der Rathausgalerie werden die letzten Vorbereitungen getroffen. Auch Kasia ist gekommen, zusammen mit ihrem Bruder Arek. Auch sie waren das letzte Mal mit dabei, nicht auf den Plakaten, Kasia und Arek haben eine Zeitung gemacht, die Zeitung zu „Kommen. Gehen. Bleiben“. Und eine Erfahrung gleich dazu: „Eigentlich sollte die Zeitung von polnischen und deutschen Schülern gemacht werden, doch am Ende waren wir 13 Polen und zwei Deutsche.“ Kasia weiß schon, warum: „In Gubin verbindet man mehr Hoffnungen mit dem Beitritt, da ist auch das Interesse an Zusammenarbeit größer, die Deutschen dagegen fürchten sich mehr.“ Auch Kasia und Arek sind Europäer mit ganzem Herzen. Gubiner sind sie nicht mehr. Kasia studiert in Poznań, Arek in Zielona Góra. In die Rathausgalerie sind sie nur gekommen, weil ihnen „Le Weekend 3“ so viel Spaß gemacht hat, dass sie auch bei „Le Weekend 4“ nicht fehlen wollen.

„Wer bringt denn die polnischen Bücher über die Grenze?“, fragt Jolanta Kucharska. „Sollen die etwa geschmuggelt werden?“ Gregor Mirwa schüttelt den Kopf. „Das macht Konrad Grossmann.“ Konrad Grossmann ist der Ausländerbeauftragte in Guben. Und er ist, wie Jolanta Kucharska, manchmal gespalten, was seine Stadt angeht. Zum einen ist er ein unermüdlicher Streiter für Minderheiten und gegen Vorurteile. Zum andern glaubt er manchmal selbst nicht mehr an den Erfolg. In solchen Momenten erzählt Grossmann dann die Geschichte vom Tauziehen der beiden Stadtverwaltungen, seit der Grenzöffnung 1991 eine Tradition. „Nur im letzten Jahr standen uns in der Sporthalle von Gubin nicht die Mitarbeiter der Verwaltung gegenüber, sondern lauter Holzarbeiter. Sooolche Schränke.“ Konrad Grossman muss aufstehen, um zu zeigen, wer da der Gegner der Gubener war. „Die haben uns unter dem Gegröle der Gubiner durch die Halle gezogen, das war nicht mehr schön.“

Gregor Mirwa ist inzwischen wieder auf der deutschen Seite. Sein Job in Guben und Gubin ist für heute erledigt, so wie sein Arztjob beim Arbeitsmedizinischen Dienst. Seit einem Jahr lebt Mirwa wieder in Berlin. Vater wird er, da ist nur noch wenig Zeit für Experimente.

Auf dem Weg zum Bahnhof hängt im Schaufenster der Buchhandlung Heron ein Aphorismus von Lichtenberg. „Man muss etwas Neues machen, um etwas Neues zu sehen.“ Gleich neben der Buchhandlung wird am 22. März eine Ausstellung eröffnet werden, mit all den Kommentaren zum Text von Joseph Conrad. Ob darin wirklich viel Neues steht?

Gregor Mirwa weiß es nicht. Für ihn ist „Guben/Gubin liest“ so offen wie für die Gubener und Gubiner. Und so offen wie die kleine Novelle von Joseph Conrad selbst. Einer der bekanntesten, die schon vor mehr als zwanzig Jahren dieses Buch lasen und ihren Kommentar zum Text lieferten, war der Filmemacher Francis Ford Coppola. Der nahm das „Herz der Finsternis“ 1979 zur Vorlage für seinen Dschungelthriller „Apocalypse Now“.