: Die justiziable Retourkutsche
Während die Staatssekretäre für Inneres und Justiz den Fall des jugendlichen Serienstraftäters Mahmout R. noch prüfen, wirft die Strafverteidiger-Vereinigung der Polizei Datenmissbrauch vor
von PLUTONIA PLARRE
Seit einer Woche bestimmt ein 20-jähriger Palästinenser die Schlagzeilen der Medien. Mahmout R. (Name geämdert) gilt als Serienstraftäter, weil er seit seinem 10. Lebensjahr über 80 Gewalttaten begangen haben soll. Die Justiz fasse den Mann zu lasch an, klagt die Polizei und fordert Haftstrafen und Abschiebung. Um den Sachverhalt zu klären, hatte Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) gestern ein Gipfeltreffen der Staatssekretäre für Inneres und Justiz anberaumt, zu dem auch der Polizeipräsident und der Leiter der Jugendstrafanstalt geladen waren. Ergebnisse lagen bis Redaktionschluss nicht vor.
Umso brisanter sind die Erkenntnisse, mit denen die Vereinigung Berliner Strafverteidiger gestern aufwartete: Mahmout R. sei keineswegs zu milde angefasst worden, sondern zu einer langjährigen Jugendstrafe verurteilt worden, heißt es in einer Presseerklärung des Vorsitzenden Stefan König. Außerdem bestehe Anlass zu der Vermutung, dass es sich bei der Kampagne gegen die Justiz um „eine Retourkutsche“ der Polizei handele, weil eine Jugendrichterin einen Beamten wegen Verdachts der Falschaussage angezeigt habe, so König.
Über den Palästinenser hatte Anfang vergangener Woche als erstes die SFB-Abendschau berichtet. Danach hatte sich die gesamte Presse auf das Thema gestürzt. Dabei wurden die Vorwürfe der Polizei fast ungefiltert übernommen: Die Justiz habe versagt, weil sie den Serienstraftäter immer wieder mit Bewährung und Haftverschonung habe davonkommen lassen.
Ihre Kenntnisse über den Fall hatten die Medien aus einem Artikel in der Fachzeitschrift Kriminalistik gezogen, der im Herbst unter der Überschrift „Konsequente Inkonsequenz“ veröffentlicht worden war. In dem zehnseitigen Beitrag hatte sich ein Inspektionsleiter für organisierte Kriminalität seinen Frust über die Justiz im Fall von Mahmout R. von der Seele geschrieben. Darin veröffentlichte er auch wörtliche Auszüge aus den psychiatrischen Gerichtsgutachten und Urteilen über R., sowie dessen komplettes im polizeilichen Informationssystem für Verbrechensbekämpfung (ISVB) gespeichertes Straftatenregister. R.s Namen hatte der Kommissar anonymisiert, an den umfänglichen Lebensdaten ist er jedoch ohne weiteres zu erkennen. In der Tatsache, dass die Polizei ungeschützte Daten veröffentlicht hat und auch über Straftaten von R. öffentlich berichtet, die dieser im Alter von 10 bis 14 Jahren – also vor dem Erreichen der Strafmündigkeit – begangen haben soll, sieht der Vorsitzende der Strafverteidiger-Vereinigung nun den Verdacht einer Straftat begründet.
Am weitesten in dem Fall aus dem Fenster gehängt hat sich die Bild-Zeitung. Sie veröffentlichte ein Foto von der Jugendrichterin, die mit R. seit 1999 befasst war und fragte in großen Lettern: „Warum hat ihn diese Richterin nie weggesperrt?“ Mahmouts R.s Anwalt, Thilo Schmidt, verweist darauf, dass genau diese Richterin seinen Mandanten zu einer Gesamtjugendstrafe von vier Jahren verurteilt habe. Die Strafe verbüße R. zurzeit. Der Grund, warum die Polizei gegen diese Frau eine „Hetzkampagne losgetreten“ habe, sei ein anderer, meint Schmidt. Die Richterin habe im Juni 2002 ein Verfahren gegen R. eingestellt, weil sie den Verdacht gehabt habe, dass ein Polizeizeuge eine Falschaussage gemacht habe. Im Anschluss daran habe die Richterin den Beamten angezeigt. Die Reaktion der Inspektion für organisierte Kriminalität sei eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Richterin gewesen. Ein Justizsprecher bestätigte, dass gegen den Polizeibeamten ein Ermittlungsverfahren anhängig ist.